Der Klimasimulator zeigt auch: Wir können es schaffen. Wir müssen jedoch heute mit einschneidenden Maßnahmen beginnen.

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Das Erstaunen der Teilnehmer war greifbar. Ungläubige Blicke, als die Temperaturgrafik eine Veränderung von gerade einmal 0,1 Grad Celsius nach unten anzeigte. "Das kann doch nicht sein – eine globale Aufforstung muss doch eine viel größere Wirkung zeigen", war die erste Reaktion eines Teilnehmers. Und dann: "Warum ist das so?" Genau dieser Frage gehen wir in einem Workshop mit dem Klima-Szenario-Simulations-Modell En-Roads nach.

Heute sind es zwölf Teilnehmer, Mitarbeiter und Führungskräfte, einer mittelgroßen Vermögensverwaltung, die an dem zweistündigen Workshop teilnehmen. Sie wollen die komplexen Zusammenhänge des Klimawandels, aber auch die Möglichkeiten der derzeitigen Klimapolitik besser verstehen.

18 Stellhebel für 18 Handlungsfelder stellt der Simulator zur Verfügung, mit denen das Klima wieder ins Lot gebracht werden soll. Und unübersehbar am rechten oberen Rand die Zahl "3,6 Grad". Um so viel wird, der Mehrzahl der verfügbaren wissenschaftlichen Studien zufolge, die Temperatur bis zur Jahrhundertwende ansteigen – wenn wir nichts tun.

Dass es so nicht geht, stand den Forschern an der MIT Sloan Business School in Cambridge, Massachusetts, rund um John Sterman schon vor vielen Jahren deutlich vor Augen. Basierend auf jahrelangen Erfahrungen mit Modellen der Systemdynamik entwickelten sie ein leistungsstarkes, interaktives Simulationsmodell, um die Wirkung unterschiedlicher Klimaszenarien aufzeigen zu können. In dem unabhängigen Thinktank Climate Interactive sind diese Aktivitäten gebündelt.

Temperaturanstieg einbremsen

Gleich zu Beginn des Workshops werden die Teilnehmer gefragt, mit welchen Maßnahmen dem Temperaturanstieg am besten entgegengewirkt werden kann: Ist es die Energieeffizienz? Im Verkehr oder in Gebäuden? Sollten nicht die erneuerbaren Energien noch viel stärker ausgebaut werden? Muss das Bevölkerungswachstum eingebremst werden? Schaffen wir es mit neuen Technologien? Können wir mit einer massiven Aufforstung gegensteuern? Ist Kernkraft der Retter? Und was ist mit einer Erhöhung der CO2-Abgabe? Kann die Art unserer Ernährung Beiträge leisten?

Der "maximale Ausbau der erneuerbaren Energien" ist meist unter den top drei. In der Logik des Simulators werden damit die erneuerbaren Energien hochsubventioniert und massiv ausgebaut. Groß die Enttäuschung, wenn der dementsprechende Stellhebel verschoben wird. Die Temperaturanzeige zeigt nur einen Rückgang um 0,2 Grad. Schauen wir uns die Fakten an: Heute haben die erneuerbaren Energiequellen (Wind, Wasser, Solar, Geothermie) einen Anteil von circa fünf Prozent an den Primärenergiequellen. Kohle, Öl, Gas dagegen machen ca. 82 Prozent aus. Selbst wenn die erneuerbaren Energien ihren Anteil an der Energiebereitstellung mehr als versechsfachen, bleiben zwei gegenläufige Trends erhalten: Der Gesamtenergiebedarf steigt weiter an. Und – noch wichtiger – Kohle und Öl bleiben vergleichsweise billig, ihr Einsatz in absoluten Größen geht unter dieser Annahme kaum zurück.

Wenn wir erneuerbare Energie massiv ausbauen und unseren Energiehunger nicht gleichzeitig massiv einbremsen, dann wird zwar der relative Anteil von Kohle, Öl und Gas auf einen Anteil von 56 Prozent zurückgehen, in absoluten Größen steigt der Kohleverbrauch bis 2100 um satte 50 Prozent. Ebenso Öl und Gas.

Probieren wir es also mit weiteren Stellhebeln. Nächster Favorit der Teilnehmer ist die Aufforstung, global und massiv. Und ja, das Wachstum der Bäume entzieht der Atmosphäre CO2. Der Simulator rechnet nüchtern und realistisch: Es braucht Zeit, bis Milliarden an Bäumen gepflanzt sind, nicht alle Böden sind geeignet. Und: Ein Baum braucht seine Zeit zum Wachsen. Stellhebel also zum maximalen Anschlag, und wieder macht sich Enttäuschung breit. Der Temperaturanstieg verlangsamt sich damit gerade einmal um 0,1 Grad. Und dabei haben wir eben Bäume auf einer Fläche gepflanzt, die der doppelten Größe von Indien entspricht.

Und es bewegt sich

Und so spielen wir weitere Stellhebel durch, bis hin zur massiven Erhöhung des CO2-Preises, die eigentlich keiner der Teilnehmer so richtig will. Doch plötzlich kommt deutliche Bewegung ins Spiel. Der Temperaturanstieg verlangsamt sich immerhin um 0,8 Grad, wenn wir den CO2-Preis heute weltweit auf 120 Dollar pro Tonne festlegen würden. Zum Vergleich: Im März 2020 lag der Preis im Emissionshandel noch unter 20 Dollar, heute liegt er circa bei 50 Dollar.

Die Wirkungskette kann an den Diagrammen abgelesen werden: Mit der CO2-Preiserhöhung verteuert sich vor allem der Stoff mit der höchsten CO2-Dichte, die Kohle, und zwar schnell und deutlich. Sie wird daher nicht mehr im bisherigen Umfang eingesetzt. Hier setzen wir also direkt an der Hauptemissionsquelle an – und zwar heute, sofort. Daher auch die beachtliche Wirkung auf den Temperaturanstieg. "Das CO2 im Boden zu lassen ist immer noch die wirksamste Strategie", meint John Andrews, der Mitgründer von Climate Interactive.

Nun sollen diese Workshops nicht Teil einer Ausbildung zum Pessimisten sein. Im Gegenteil! Wir fragen also: "Wie fühlen Sie sich jetzt"? Und meistens hören wir Antworten wie: "Ehrlich gesagt, nicht so gut. In vielen Lösungswegen haben wir uns ganz massiv geirrt." Eine Erkenntnis ist schnell formuliert: Es gibt nicht die einzige Lösung zur Bewältigung des Klimawandels. Was wir brauchen, ist ein koordiniertes Vorgehen, ein konsequentes Nutzen aller Stellhebel. Einzelmaßnahmen sind nicht zielführend, wie die Teilnehmer des Workshops klar erkennen können. Und wer die Wirkungszusammenhänge außer Acht lässt, der verschlimmert unter Umständen gar die Situation.

Handeln jetzt

Wie an einem letzten Beispiel deutlich wird: Lassen wir unsere Ernährung außen vor, geben wir eine wichtige Stellschraube aus der Hand. Methan wird vor allem in der tierischen Produktion freigesetzt und hat die 25- bis 28-fache Wärmebindungswirkung von CO2. Weniger Fleisch kann also eine enorme Klimawirkung haben, die Reduktion des landwirtschaftlich erzeugten Methans reduziert den Klimaanstieg um 0,2 Prozent. Eine so nicht erwartete positive Überraschung für die meisten der Teilnehmer.

En-Roads zeigt auch klar: "Wir können es schaffen." Wir müssen jedoch heute mit einschneidenden Maßnahmen beginnen. Der Klimasimulator En-Roads wurde bereits bei einer Vielzahl von Zielgruppen eingesetzt, von Staatsoberhäuptern über den US-Kongress, Wirtschaftsführer und Bankmanager bis hin zu Studierenden und Schülern der Oberstufe. Sie alle waren motiviert, die langfristigen Klimaauswirkungen von globalen politischen und Investitionsentscheidungen besser zu verstehen. Und wurden am Ende inspiriert zu handeln. (Friedhelm Boschert, 2.8.2021)