Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kämpft seit Jahrzehnten mit Überlastung. Mittlerweile ist er für rund 800 Millionen Menschen zuständig.

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Der Rechtszug an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist künftig schwieriger: Acht Jahre nach Beschlussfassung tritt heute, Sonntag, das 15. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Kraft. Die Novelle soll die Voraussetzungen eines Rechtsmittels an den überlasteten Gerichtshof erschweren und damit die Anzahl der anhängigen Verfahren reduzieren. Die in der Präambel nun explizit festgeschriebene Subsidiarität des EGMR hebt den Beurteilungsspielraum der einzelnen Mitgliedsstaaten bei der Anwendung der Menschenrechtskonvention hervor. Ein "Symptom für den Rückbau des internationalen Menschenrechtsschutzes", sagt Franz Merli, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Wien.

Mit der Reform des wichtigsten europäischen Grundrechtsdokuments verkürzt sich die Beschwerdefrist von derzeit sechs Monaten auf vier Monate. Zudem werden die Zulässigkeitsvoraussetzungen für einen Rechtszug an den Gerichtshof erschwert: Künftig müssen sich die Straßburger Richter nicht mit Beschwerden beschäftigen, wenn der betroffenen Person "kein erheblicher Nachteil" entstanden ist. Diese Option gab es schon bisher. Allerdings musste ein Fall dennoch geprüft werden, wenn er von den jeweiligen innerstaatlichen Gerichten nicht ordentlich untersucht wurde. Diese Verpflichtung fällt nun weg.

Einschnitte im Rechtsschutz

Die Verkürzung der Beschwerdefrist dürfte laut Merli zumindest für Österreich keine große Bedeutung haben. "Vier Monate sind immer noch ausreichend. In Österreich sind wir vier- oder sechswöchige Fristen gewohnt." Die gesamte Verfahrensdauer sei sehr lang, weil man vor einer Beschwerde an den EGMR den staatlichen Instanzenzug ausschöpfen muss. "Ich glaube, dass es gut ist, dass man sich relativ schnell entscheiden muss, ob man Beschwerde erhebt oder nicht", sagt Merli.

Das nun auch Fälle "ohne erheblichen Nachteil" zurückgewiesen werden können, die von nationalen Gerichten nicht ordentlich geprüft wurden, dürfte vor allem in Ländern, in denen kein ordentlicher Rechtsschutz besteht, zu Einschnitten führen. Schon jetzt wird die große Mehrheit der Beschwerden als unzulässig zurückgewiesen und damit nicht näher behandelt. Ob ein erheblicher Nachteil vorliegt, hängt dabei vom verletzten Recht hab. "Wenn ein Eingriff in das Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit vorliegt, dann ist das natürlich schwerwiegender als eine behauptete Verletzung des Eigentumsrechts", erklärt Merli. Eine Rolle spiele aber auch, ob der Eingriff nur für die betroffene Person selbst oder auch für die Allgemeinheit relevant ist.

Gerichtshof stark überlastet

Der EGMR, der mittlerweile für rund 800 Millionen Menschen zuständig ist, kämpft seit Jahrzehnten mit Überlastung. Jedes Jahr werden über 50.000 Beschwerden neu eingereicht. "Der Gerichtshof ist bemüht, sich innerhalb von drei Jahren mit einer Beschwerde zu befassen", heißt es dazu auf der Website. Drei Viertel der Anträge stammen aus nur sieben EMRK-Mitgliedsstaaten: Rumänien, Russland, Türkei, Ukraine, Italien, Ungarn und Aserbaidschan.

"Der EGMR ist Opfer des eigenen Erfolgs geworden", erzählt Merli. Da der Rechtschutz gut funktioniert, sei auch die Anzahl der Beschwerden gestiegen. In der Vergangenheit hat man immer wieder versucht, den EGMR zu entlasten – etwa durch die Einrichtung des ständigen Gerichtshofs im Jahr 1998 oder die Möglichkeit, dass Beschwerden auch von einzelnen Richtern behandeln werden können und nicht immer ein Richterkollegium zuständig ist.

Symbolische Bedeutung

Die Verankerung der Subsidiarität in der Präambel sei laut Merli von großer "symbolischer Bedeutung". Sie hat zwar keine direkten Konsequenzen, weil der Text nicht rechtlich verbindlich ist, verdeutlicht aber eine jahrelange Tendenz im internationalen Grundrechtsschutz. "Derzeit ist eine allgemeine Rückzugsbewegung im Bereich der Menschenrechte zu vernehmen. Schon seit längerem sind sie nicht mehr im Aufstieg, sondern eher im Abstieg begriffen", sagt Merli.

Für Österreich hatte die Rechtsprechung des EGMR stets besondere Bedeutung. Die Republik ist seit 1958 Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention. Im Jahr 1964 wurde sie auch innerstaatlich in den Verfassungsrang gehoben – eine Einzigartigkeit unter den 47 Vertragsstaaten. Die in der Konvention verankerten Rechte sind seither zentraler Bestandteil des nationalen Menschenrechtsschutzes. (Jakob Pflügl, 1.8.2021)