Manchmal kann ein Gebäude eine Metapher sein für das, was sich darin abspielt – eine Frage des Blickwinkels. An der Ecke Stresemannstraße / Anhalter Straße in Berlin wurde ein neues Haus in ein altes gestellt – oder vielmehr in das, was von dem vor fast hundert Jahren errichteten, umgebauten und entkernten Gebäude übrig ist. Dort, wo der Sichtbeton beginnt, ist das Heute, die weißen Wände rundherum sind der Rest vom Alten. Erhellt wird die Grenze durch eine ästhetische Lichtfuge, durch die von oben Sonnenlicht einfällt.

Ende Juni 2021 wurde hier das "Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung" eröffnet. Wo die Architektur der Vorarlberger Brüder Bernhard und Stefan Marte mit Eleganz alte Bausubstanz mit neuen Bedürfnissen verbinden konnte, gingen inhaltlich Jahre harter Debatten voran.

Ein Kasten voller Erinnerung: Viele Exponate stammen aus "Heimatstuben"-Museen von Vertriebenenverbänden.
Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Gröteke

Das ursprüngliche Haus war gemeinsam mit dem Nebengebäude eines jener Hochhäuser mit Leuchtreklame, die das moderne Berlin der späten 1920er-Jahre prägten. Europahaus nannte man den Komplex vor dem Krieg. Später wurden vom gegenüberliegenden Anhalter Bahnhof, von dem nur mehr das Eingangsportal steht, Berliner Juden ins KZ Theresienstadt deportiert. Während der NS-Diktatur residierte im Haus das Reichsarbeitsministerium, wo Zwangsarbeit organisiert wurde. Bomben der Alliierten beschädigten das Gebäude. In den 1960er-Jahren wurde es wieder instand gesetzt, dann zogen Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen (BdV) ein. In Kreuzberg nahe der Mauer gelegen, wurde es als "Deutschlandhaus" auch Zufluchtsort für DDR-Flüchtlinge.

Der "Raum der Stille".
Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Gröteke

Seit wenigen Wochen finden sich auf 6000 Quadratmetern Ausstellungen, eine Bibliothek und ein Zeitzeugenarchiv sowie ein "Raum der Stille" im Parterre.

Flucht als globales Phänomen

Die Ausstellungen verteilen sich auf zwei Ebenen: Das erste Obergeschoß ist dem "globalen Phänomen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration" gewidmet. Hier werden in Glasvitrinen, Schubladen und auf Bildschirmen Vertreibungen und Genozide der Menschheitsgeschichte erklärt. Ruanda hat eine ausziehbare Schublade, Kambodscha eine andere. Hinter Glas werden auch dutzende Pässe aus aller Welt gezeigt, Dokumente, die erst durch die Idee von ethnisch bestimmten Nationen über Schutz oder Ausgrenzung bestimmen konnten. In einem anderen Schaukasten steht eine mannshohe Säule übereinandergestapelter Friedensabkommen, die verheerende Kriege allzu oft nicht verhindern konnten. Die Versatzstücke führen in die jüngste Vergangenheit: Da hängen Schwimmwesten, da liegt das Handy eines syrischen Flüchtlings.

Wendeltreppe in die Vergangenheit

Über eine imposante Wendeltreppe geht es ins zweite Obergeschoß zum "Spezialfall" Deutschland. Hier wurde eingelöst, was Vertriebenenverbände jener, die von Hitler umgesiedelt oder aus den von Nazis überfallenen Ländern nach dem Krieg vertrieben wurden, lange einforderten: ein Gedenkort an Deutsche, die ihre Heimat verloren hatten, aber nicht vom NS-Terrorregime verfolgt wurden, sondern oft Anhänger dieses Regimes waren. "Ohne den Terror der Nationalsozialisten, den Zivilisationsbruch und den Zweiten Weltkrieg wäre es nicht dazu gekommen, dass die Deutschen Vertreibung und Zwangsumsiedlung hätten erleiden müssen", betonte Kanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung.

Die mächtige Wendeltreppe der Vorarlberger Architekten Marte.
Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Gröteke

Auf diesem Prinzip von Ursache und Wirkung beruht das Leitsystem, das Besucher zwingt, zuerst multimediale Themeninseln über die Ideologie des Faschismus und deutsche Gräueltaten, etwa in Russland, aufzusuchen, bevor man zu den Erinnerungsstücken "Volksdeutscher" gelangt: etwa zum Pelzmantel, unter dem eine Frau auf der Flucht ihr Kind gebar, zum Handwagen, mit dem eine Familie aus Jugoslawien floh, oder zur nie vollendeten Stickerei aus dem Banat. Viele Stücke stammen aus aufgelösten "Heimatstuben" verschiedener Vertriebenenverbände.

Der Teddybär eines geflohenen Kindes ist eines der persönlichen Exponate. Nach dem Krieg bemühten sich die wahlwerbenden Parteien auf ihren Plakaten um die Stimmen der Vertriebenen.
Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Gröteke

Am Ende des Rundgangs wird man viel gesehen haben: den Kinderschlitten, der zum Leichentransport in Leningrad benutzt wurde, das deutsche Truppen 28 Monate belagert und ausgehungert hatten, ebenso den alten Teddy eines vertriebenen schlesischen Mädchens.

Dass Vertriebenenverbände Schnittmengen mit rechtsnationalistischen Kreisen hatten, ist nicht neu. Für die 2008 vom Bund ins Leben gerufene Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wurde vor allem die ehemalige CDU-Mandatarin und, bis 2014, Präsidentin des BdV, Erika Steinbach, nach Außen zum Problem. Steinbach, die später die Nähe der AfD suchte, stimmte etwa gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Im Präsidium der Stiftung werden heute noch sechs der 21 Sitze von Mitgliedern des BdV besetzt. Steinbachs Nachfolger als Chef des BdV ist der CDU-Politiker Bernd Fabritius.

"Erinnerungslücken"

"Ohne Frau Steinbach gäbe es dieses Haus aber nicht", betont die Historikerin Gundula Bavendamm, Direktorin des neuen Zentrums und seit 2016 Leiterin der Stiftung, im STANDARD-Gespräch. Steinbach forderte gemeinsam mit dem 2005 verstorbenen SPD-Politiker Peter Glotz schon 1999 eine Gedenkstätte für deutsche Vertriebene. "Das Schließen einer Erinnerungslücke", nennt Bavendamm die Aufgabe des Hauses, für das es 65 Millionen Euro öffentliches Geld für den Umbau und 12 Millionen für die Erstaustattung gab.

Terror

Dass der Holocaust nur am Rande vorkommt, hinterlässt beim Besuch des Hauses bei allem sichtbaren Bemühen, die Vertreibungen von rund 14 Millionen Deutschen im historischen Kontext zu sehen, eine andere Lücke. Gerade, weil man sich in der Schau auch der Vertreibung vieler anderer auf der Welt widmet. Der Umstand, dass in wenigen Gehminuten das Areal der "Topographie des Terrors" liegt und man durch die Fenster der Bibliothek auf die Baustelle blickt, wo das Exilmuseum im Gedenken an alle von den Nazis Verjagten – mit Privatspenden – entstehen soll, ist vielleicht ein Argument dafür, dass jüdische NS-Opfer hier fehlen.

Den stadträumlichen Kontext sieht auch Bavendamm, betont aber, das für sie "dieses Zentrum so, wie es ist, aus sich heraus rund", sei. Was für sie zudem wichtig sei: "Ich sehe keine Ansatzpunkte, die Rechtsextreme für sich vereinnahmen könnten."

Kein Auftritt für Björn Höcke

Bavendamm hatte in den vergangenen Monaten andere Sträuße auszufechten. Der bekannte Theatermacher Ersan Mondtag war für die Eröffnung des Hauses für eine Performance beauftragt worden – später sollte es pandemiebedingt ein Film werden. Bavendamm und Mondtag überwarfen sich, es kam zum Abbruch der Zusammenarbeit und zum Rechtsstreit. Für Bavendamm ging es dabei vor allem um Nutzungsrechte. Mondtag sprach öffentlich auch von inhaltlichen Einmischungen. Er wollte den rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke thematisieren. Darauf vom STANDARD angesprochen, räumt Bavendamm ein: "Ich wollte Höcke in diesem Haus keinen Auftritt geben."

Die Historikerin Gundula Bavendamm, Direktorin des neuen Zentrums ist seit 2016 Leiterin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Vor der Eröffnung überwarf sie sich mit dem Theaterregisseur Ersan Mondtag.
Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Gröteke

Dass dann die Vergangenheit der 56-Jährigen als Leiterin des Alliiertenmuseums thematisiert wurde, ist für sie ein "persönlicher Angriff". Bavendamm spricht im Zusammenhang mit einen Artikel in der Süddeutschen gar von "journalistischen Schnüffelhunden". Bavendamm hatte ihren Vater ehrenamtlich im Alliiertenmuseum beschäftigt, was sie "nie bestreiten würde".

Revisionistischer Vater

Das Problem – jedenfalls für andere: Ihr Vater ist Dirk Bavendamm, ehemaliger Journalist und revisionistischer Historiker mit stramm rechten Verbindungen. Als solcher vielleicht nicht die ideale Hilfskraft für ein Museum, das den Befreiern gewidmet ist. Die Tochter dazu: "Er hat dort ja nicht alleine irgendwelche Akten sortiert."

Verschiedene Blickwinkel auf die deutsche Geschichte werden wohl auch nach der Eröffnung eines Hauses, das der Versöhnung verschrieben ist, nicht ganz verschwinden. (Colette M. Schmidt, 31.7.2021)