Belarussische Frauen beim Protest in den Straßen von Minsk. Klassische Dichter des Landes würden sich wohl hinter sie stellen.

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Mit ihrer Literatur waren die Belarussen spät dran – die repressive Sprachpolitik des Zarenreichs hatte Entwicklungen verzögert. Während die großen Dichter der Russen, Polen und Ukrainer bereits vor mehr als 160 Jahren starben, begann der belarussische Nationaldichter Janka Kupala seine Laufbahn erst im frühen 20. Jahrhundert.

Um das Andenken des Dichters (1882–1942) bemühte sich besonders auch seine Familie, die in Belarus weiterhin Prominenz genießt: Nach der Witwe war später ebenso Großnichte Schanna Dapkjunas lange Zeit Direktorin des staatlichen Kupala-Museums. Urgroßneffe Andrej Dapkjunas indes fungiert seit August 2020 als Botschafter von Belarus in Wien. Der Diplomat, der auch ob seiner Abstammung als nationalbewusster Intellektueller wahrgenommen wird, vermied in Österreich bislang Kontakt mit Medien. Er wich damit auch einer Frage aus: Auf welcher Seite stünde sein Verwandter in der Konfrontation zwischen Lukaschenko und Zivilgesellschaft?

Millionen geknechteter Belarussen

Der Botschafter könnte freilich kaum ehrlich antworten, ohne seinen Job zu verlieren. Denn vieles, was sein Präsident zuletzt politisch verantwortete, widerspricht dem Geist dieser klassischen Literatur. Gerade Kupalas frühe Lyrik, vor dem Hintergrund der brutalen Niederschlagung von Protesten 1905 entstanden, liest sich derzeit nahezu wie ein einziges Manifest der Opposition gegen Unterdrückung. In Wer geht denn dort? (1908), einem von Kupalas bekanntesten Gedichten, ist etwa von Millionen geknechteter Belarussen die Rede, die ihre Kränkung in der ganzen Welt zur Schau stellen und sich nichts mehr wünschen, als "Mensch" genannt zu werden.

Deshalb ist es auch kein Zufall, dass im vergangenen August die Säuberungswelle im Kulturbetrieb ausgerechnet im Janka-Kupala-Nationaltheater in Minsk ihren Anfang genommen hat. Theaterdirektor Pawel Latuschko hatte gegen Wahlfälschungen protestiert und wurde dafür gefeuert. Mit ihm verließ ein großer Teil des politisch engagierten Kollektivs die älteste und wichtigste Bühne des Landes. Seit damals machen diese Schauspieler als "Kupalauzy" weiter. Sie kommentierten Vorgänge in ihrer Heimat mit Videos, in denen sie Gedichte ihres Namensgebers interpretierten.

Die Ereignisse des vergangenen Sommers vereitelten im Nationaltheater auch eine langerwartete Premiere: Bereits als Kulturminister hatte sich Latuschko 2010 um eine Wiederinszenierung von Kupalas epochaler Tragikomödie Die Hiesigen (1922) bemüht, die zwischen 1990 und 2010 im Haus gelaufen war. Zuvor hatten sowjetische Zensoren das Stück, das den opportunistischen Verrat der eigenen Kultur anprangert, jahrzehntelang verboten.

Druck auf den "Volksdichter"

Das Verhältnis der Sowjets zu Kupala und seinem Werk selbst war äußerst zwiespältig gewesen. Obwohl man ihn 1925 zum offiziellen "Volksdichter" erklärt hatte, übte Stalins Geheimpolizei später massiven Druck auf ihn aus. Nichtsdestotrotz blieb er offiziell die zen trale Dichterfigur der Belarussen. Als sowjetische Ideologen ab den 1970ern nationales Kolorit in der offiziösen Popkultur zuließen und damit ungewollt zum späteren Zerfall der Sowjetunion beitrugen, avancierten just Kupalas Gedichte zu Liedtexten des berühmten belarussischen Ensembles Pesnjary. Parallel gehörte der Poet in seiner Heimat seit Jahrzehnten zum Schulkanon.

Gerade deshalb dürfte Lukaschenko auch Zensur von Kupalas Werk schwerfallen. Offen propagieren wollte man ihn zuletzt jedoch nicht mehr: Obwohl der vor der politischen Krise gedrehte Spielfilm Kupala, in dem auch Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten des Jahres 1905 zu sehen ist, bereits im Herbst 2020 im Moskau seine Premiere feierte, lief er bislang in Belarus nicht an. Kulturminister Anatoli Markewitsch begründete dies im Juni mit pandemiebedingten Einschränkungen. "Lukaschenko hat sich den Film angesehen und dem Kinostart nicht zugestimmt", sagt hingegen Ex-Theaterdirektor Latuschko, der im polnischen Exil Oppositionspolitik betreibt. Im Regime gebe es auch zunehmend weniger Raum für die belarussische Kultur und Sprache, klagt er dem STANDARD.

Als Nazi-Machwerk verunglimpft

Wie eng es werden kann, zeigt das De-facto-Verbot eines Gedichts von Natallja Arsennewa (1903–1997). Die renommierte Dichterin und gute Bekannte Kupalas hatte während der deutschen Besetzung 1943 in Minsk ein patriotisches Gebet veröffentlicht. Ein in Belgien lebender Komponist vertonte die Verse 1947, O mächtiger Gott avancierte später zur informellen Hymne des belarussischen Exils. Lukaschenkos Propagandisten aber stellen das Lied nahezu als Nazi-Machwerk dar, die Polizei ging schon gegen Kirchengemeinden vor, die es in Gottesdiensten sangen.

Im Text Arsennewas finden sich freilich keine Indizien für NS-Gedankengut. "Glauben Sie den Vorwürfen gegen Arsennewa nicht, ich habe mir das sehr genau angesehen", sagt zum STANDARD die kanadische Slawistin Zinaida Gimpelevich, eine international führende Expertin für belarussische Literaturgeschichte. (Herwig G. Höller, 2.8.2021)