Du bist, was du isst – das gilt zumindest oberflächlich betrachtet für die Wandelnden Blätter. Diese außergewöhnlichen Insekten, die zu den Stab- und Gespenstschrecken zählen, sehen nicht nur aus wie Blätter und verhalten sich wie Blätter, etwa wenn sie stundenlang bewegungslos ausharren oder sich mit dem Wind bewegen. Sie fressen eben auch Blätter, die fast so aussehen wie sie. Möglich wird diese perfekte Tarnung durch großflächige Erweiterungen an Körpern und Beinen, die Formen und Farben von Laubblättern unterschiedlicher tropischer Pflanzen imitieren.

Ein etwas mitgenommenes Blatt? Nein, ein Weibchen der Art Phyllium celebicum.
Foto: Imago

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Göttingen hat die Evolution der Wandelnden Blätter nun genauer untersucht und einen genetischen Stammbaum der Insekten erstellt, der rund zwei Drittel aller bekannten Spezies umfasst – knapp Hundert an der Zahl. Der Stammbaum der Blätter-Doubles ist im Fachblatt "Communications Biology" erschienen.

Kryptospezies

Schon seit Jahrmillionen setzen die Wandelnden Blätter erfolgreich auf ihre pflanzliche Tarnung, die sie vor Vögeln, Säugetieren und anderen Fressfeinden schützt. Die Insekten zeigen dabei eine erstaunliche Liebe zum Detail: Sie imitieren mit ihren Körpern Fraßstellen, verwelkende Blatteile und sogar die Blattaderung.

Die Schrecken haben ihre Tarnung auf fast schon erschreckende Weise perfektioniert.
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Der Großteil der Wandelnden Blätter wurde bislang unter dem Namen Phyllium zusammengefasst. Dabei wurden allerdings zahlreiche Arten in einen Topf geworfen, die gar nicht näher miteinander verwandt sind. Sarah Bank von der Uni Göttingen und Kollegen wollten mehr Klarheit in die Verwandtschaftsbeziehungen der Schrecken bringen und führten zu diesem Zweck einige neue Gattungen ein. "Viele der untersuchten Arten sind noch nicht einmal wissenschaftlich beschrieben", sagte Bank. "Wir haben auch viele kryptische Arten identifiziert – also solche, die sich äußerlich nicht unterscheiden, aber genetisch stark verschieden sind."

Jünger als angenommen?

Das Team rekonstruierte zudem die stammesgeschichtliche Verbreitung der Insekten. Demnach liegt der Ursprung der Wandelnden Blätter im Südpazifik, von wo sie sich in den vergangenen 50 Millionen Jahren über das gesamte tropische Asien ausbreiteten – im Osten bis zu den Fidschi-Inseln, im Westen bis zu den Seychellen. "Das Alter der Wandelnden Blätter ist ein wissenschaftlich umstrittenes Thema", sagt Bank. "Manche Studien hatten deren zeitlichen Ursprung in der Kreide- oder sogar Jurazeit, also vor 100 bis 150 Millionen Jahren, angesiedelt. Damals waren die angiospermen (bedecktsamigen) Blütenpflanzen, deren Blätter die Insekten so perfekt imitieren, jedoch noch gar nicht verbreitet. Folglich erscheint uns ein jüngerer Ursprung plausibler."

Aber auch 50 Millionen Jahre sind eine lange Zeit, in der die Wandelnden Blätter ihre Tarnung immer weiter perfektionieren konnten. Die Männchen einiger Arten haben dabei einen besonders radikalen Trick entwickelt, um bei Gefahr noch blattähnlicher zu werden: Sie werfen ihre Beine ab. (dare, red, 2.8.2021)