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Timanowskaja flüchtet nach Polen.

Foto: AP

Tokio/Wien – Polen hat der belarussischen Olympionikin Kristina Timanowskaja, die nach eigenen Angaben nach Kritik an Sportfunktionären ihres Landes zur Rückkehr nach Belarus gezwungen werden sollte, ein humanitäres Visum ausgestellt. Die Athletin "steht bereits in direktem Kontakt mit polnischen Diplomaten in Tokio", erklärte Polens stellvertretender Außenminister Marcin Przydacz am Montag auf Twitter. "Sie hat ein humanitäres Visum erhalten."

Polen werde alles tun, "was notwendig ist, um ihr zu helfen, ihre Sportkarriere fortzusetzen", fügte er hinzu. Timanowskaja sei in "sicherem und gutem Zustand" in der polnischen Botschaft in Tokio. Sie werde in den nächsten Tagen nach Polen reisen, sagte Przydacz der Nachrichtenagentur Reuters. Ihr Ehemann bestätigte der Nachrichtenagentur AFP, dass sie "wahrscheinlich nach Polen gehen" werde. Er selbst ist nach eigenen Angaben aus dem autoritär regierten Belarus geflohen und hält sich in Kiew in der Ukraine auf. Wegen des Konflikts seiner Frau mit den Behörden seien sie in ihrem Heimatland "nicht sicher".

Schallenberg: "Es liegt an ihr"

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte Konsequenzen für die belarussische Führung. Er sprach von einem "kriminellen Versuch, eine Sportlerin zu entführen, die kritisch gegenüber dem belarussischen Regime eingestellt ist". Die "Aggression der belarussischen Sicherheitsdienste auf japanischem Gebiet" müsse auf "entschiedenen Widerspruch der internationalen Gemeinschaft stoßen", forderte er am Montagabend auf Facebook. Die Olympischen Spiele sollten ein Symbol des Friedens und des Fairplay sein.

Auch Österreich wäre bereit gewesen, Timanowskaja aufzunehmen. Außenminister Alexander Schallenberg sagte laut einem Newsletter der Tageszeitung "Die Presse": "Wir haben sie erwartet. Es liegt an ihr, wofür sie sich entscheidet." Die österreichische Botschaft in Tokio sei darauf eingestellt gewesen, der Leichtathletin zu helfen. Doch Timanowskaja habe sich nicht gemeldet. "Österreich duckt sich nicht weg", betonte Schallenberg.

Hilferuf

Die 24-jährige Sprinterin hatte in Onlinemedien Kritik an den belarussischen Sportfunktionären geübt, weil sie bei den Olympischen Spielen ohne Rücksprache mit ihr für die 400-Meter-Staffel statt für den 200-Meter-Lauf aufgestellt worden war. Das belarussische olympische Komitee erklärte daraufhin, Timanowskaja scheide wegen ihres "emotionalen und psychologischen Zustands" aus dem Wettbewerb aus.

Die Athletin wies die Behauptung zurück und bat das Internationale Olympische Komitee (IOC) um Hilfe: "Ich stehe unter Druck, und sie versuchen mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen", sagte sie in einem Video. Sie habe die japanische Polizei um Schutz gebeten. Die Nacht von Sonntag auf Montag verbrachte sie unter Schutzvorkehrungen in einem Hotel auf dem Flughafen.

IOC fordert Geduld und erntet Kritik

"Wir müssen alle Tatsachen feststellen und alle Beteiligten anhören, bevor wir weitere Maßnahmen ergreifen", sagte IOC-Sprecher Mark Adams am Dienstag. Das IOC hatte eine Stellungnahme des belarussischen olympischen Komitees angefordert, die Frist lief laut Adams am Dienstag ab. Wann das IOC seine Ermittlungen abschließen werde, wollte der IOC-Sprecher nicht sagen. "Diese Dinge brauchen Zeit. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen."

Dagmar Freitag, Vorsitzende des deutschen Sportausschusses im Bundestag, kritisiert das abwartende IOC. "Es sieht jedenfalls nicht danach aus, als sollte das Thema während der Olympischen Spiele geklärt werden", sagte sie dem sid. Zudem müsse sich das IOC fragen, "wie es möglich war, dass eine Athletin offenkundig gegen ihren Willen aus dem Olympischen Dorf gebracht werden konnte – einem Ort, an dem die Sportlerinnen und Sportler doch unter dem Schutz des IOC stehen sollen", sagte die SPD-Politikerin.

Keine Kontaktaufnahme

Auch Tschechien und Slowenien hatten Timanowskaja Zuflucht angeboten. Frankreichs Europaminister Clément Beaune hatte sich für politisches Asyl für die 24-Jährige in der EU ausgesprochen. "Das wäre eine Ehre für Europa", sagte er dem Sender RFI. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, forderte Hilfe aus Österreich. Das Außenministerium solle umgehend prüfen, wie Österreich in diesem Fall Zuflucht gewähren könne, betonte sie am Montag. "Bürokratische Hürden dürfen dabei nicht im Wege stehen."

Zuvor hatte es Berichte einer Oppositionsgruppe gegeben, wonach Timanowskaja bei der österreichischen Botschaft in Tokio um Asyl anzusuchen versuchte. Eine Bestätigung dafür gab es nicht. "Es hat bisher keine Kontaktaufnahme der Sportlerin mit der österreichischen Botschaft in Tokio gegeben", erklärte ein Sprecher des Außenministeriums am Sonntagnachmittag. ÖOC-Präsident Karl Stoss sagte, Timanowskaja sei an das UN-Flüchtlingskommissariat vermittelt worden.

Lukaschenko kritisiert Abschneiden

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko hatte sich am Donnerstag über das schlechte Abschneiden seines Landes bei den Sommerspielen beklagt. Man müsse sich mit den Trainern beschäftigen, die dafür in erster Linie die Verantwortung trügen, sagte er. Eine geleakte Tonaufzeichnung zeugte davon, dass Sportfunktionäre Timanowskaja nach ihrer Kritik an ihnen drohten und sie aufforderten, nach Belarus zurückzukehren und zu schweigen.

Die EU-Kommission kritisierte die belarussische Führung scharf. Der Versuch ihrer "gewaltsamen Repatriierung" sei "ein weiteres Beispiel der Brutalität des Lukaschenko-Regimes, das alle Teile der Gesellschaft trifft und den Olympischen Frieden nicht respektiert", sagte eine Kommissionssprecherin am Dienstag. Für US-Außenminister Blinken verletzen "solche Aktionen den olympischen Geist, verstoßen gegen die Grundrechte und dürfen daher nicht toleriert werden".

Lukaschenko regiert das Land seit 1994 mit harter Hand. Die Lage hat sich seit der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 massiv verschärft. Die mutmaßlich gefälschte Wahl wurde international nicht anerkannt. Gegen friedliche Proteste gingen die Behörden blutig vor. Sie reagierten mit Folter und Inhaftierungen. Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten und kritische Journalisten werden verfolgt. Mehr als 600 Namen befinden sich auf der Liste politischer Gefangener in Belarus. (APA, red, 3.8.2021)

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