Isaac saß schon erwartungsvoll in seinem Babysessel: Es war kurz nach 18 Uhr, Essenszeit. Seine Mutter Sarah Copland, eine australische Uno-Mitarbeiterin in Beirut, bereitete gerade seinen Brei zu, als es einen lauten Knall gab. Copland, die den Libanon bald endgültig verlassen wollte, weil sie in Erwartung ihres zweiten Kindes war, trat ans Fenster ihrer Wohnung im Stadtzentrum. Auf den ersten Blick war keine Ursache für das Geräusch erkennbar. Sie machte kehrt.

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Wohn- und Bürohäuser in der Nähe des Hafens von Beirut nach der am 4. August erfolgten Explosion – und heute, ein Jahr danach.
Foto: Reuters / Azir Taher

Plötzlich ein zweiter, noch lauterer Knall. Die Druckwelle ließ die Fensterscheibe bersten. Copland blieb verschont, doch Isaac wurde durch die Luft geschleudert, eine Scherbe traf den Zweijährigen in die Brust. Mit Isaac auf dem Arm rannten Copland und ihr Mann auf die Straße. Chaos. Ein Auto hielt an, brachte sie ins Krankenhaus. Doch die Ärzte konnten Isaac nicht retten. Er ist das jüngste der 211 Todesopfer jener fatalen Explosion von rund 2700 Tonnen Ammoniumnitrat vor genau einem Jahr, am 4. August 2020, im Hafen, die ganze Stadtviertel Beiruts verwüstete.

Coplands Stimme wirkt gefasst, als sie dem STANDARD am Telefon von diesem Tag erzählt. "Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Isaac nicht mehr lebt", beschreibt die Australierin, die wieder in ihrer Heimat lebt, ihren Gefühlszustand: "Dass schon ein Jahr ohne Isaac vergangen ist und dass noch so viele ohne ihn vor uns liegen." Und sie erzählt davon, dass sie und ihr Mann die Geschehnisse immer wieder durchspielen; dass sie gestresst und müde ist; und dass sie trotz ihrer tiefen Trauer versucht, ihrem zweiten Sohn, der im Dezember zur Welt kam, eine gute Mutter zu sein.

Offene Fragen ...

Erschwert wird Coplands Trauerprozess durch schleppende Ermittlungen im Libanon. "Ich weiß noch nicht einmal, was genau passiert ist", sagt die 38-Jährige. Die Behörden haben immer noch keine Antworten auf die zwei dringlichsten Fragen geliefert: Warum das Feuer, das eine der größten nicht-nuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte auslöste, ausgebrochen ist; und wer für die Aufbewahrung des seit 2014 langsam verrottenden Düngemittels verantwortlich war.

Im Vorjahr an die Presse geleakte Dokumente sollen belegen, dass sogar der libanesische Präsident Michel Aoun über die Zustände im Hafen im Bilde war. Recherchen haben zudem ergeben, dass das Ammoniumnitrat konfisziert worden war, weil sich der Betreiber eines Frachters, der die Ladung von Georgien nach Mosambik bringen sollte, weigerte, offene Forderungen zu begleichen.

Seither wurden die Chemikalien ohne Sicherheitsmaßnahmen in einer Lagerhalle im Beiruter Hafen gelagert. Der Hafenbehörde eilte schon lange der Ruf voraus, korrupt zu sein und konfiszierte Waren zu versteigern. Laut einem FBI-Bericht gelten große Mengen der Schiffsladung heute als unauffindbar.

... stockende Ermittlungen, ...

Direkt nach der Explosion hatten führende Politiker eine rasche Aufklärung versprochen – tatsächlich aber behindert die Politik die Untersuchungen der Justiz. Führende Minister durften bisher wegen parlamentarischer Immunität nicht befragt werden. Opferangehörige sind empört, weil der interimistische Innenminister Mohamed Fehmi auch die Vernehmung von Abbas Ibrahim verhinderte; dieser ist als mächtiger Direktor der sogenannten Allgemeinen Sicherheitsbehörde für die Wahrung der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung zuständig.

Neben politischer Intervention gibt es keine Berufungsmöglichkeit, erklärt Copland – auch das entspreche nicht internationalen Standards. Deshalb hat sie sich mit Opferangehörigen und NGOs zusammengeschlossen, um eine internationale Uno-Untersuchung zu fordern. "Österreich kann dabei eine wichtige Rolle spielen", sagt sie. Denn als temporäres Mitglied des Menschenrechtsrates HRC sei die österreichische Delegation noch bis Jahresende befugt, eine Resolution für eine einjährige Faktenfindungsmission vorzuschlagen.

Zu diesem Appell sagt das österreichische Außenministerium auf STANDARD-Nachfrage, dass Österreich vollstes Verständnis für den Wunsch der Opfer beziehungsweise ihrer Angehörigen nach Aufklärung hat. Generell könne es zu internationalen Untersuchungen durch den Uno-Menschenrechtsrat kommen, wenn nationale Bemühungen unzureichend seien. Dies könne derzeit aber noch nicht gesagt werden. Überdies liege bisher keine konkrete Resolutionsinitiative vor.

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Proteste von Angehörigen: Die Regierung hat für sie Blut an den Händen.
Foto: AP / Bilal Hussein

Copland hat das Vertrauen in den libanesischen Rechtsstaat längst verloren, und so ergeht es auch vielen Libanesen. Für den Jahrestag am Mittwoch sind deshalb Proteste geplant. Die Hotline der Gesundheitsorganisation Embrace registrierte zuletzt einen massiven Anstieg an Anrufern: "Der Schmerz ist immer noch voll da", schreibt Mia Atoui, Gründerin der Plattform, auf Twitter.

... und Proteste gegen die Regierung

Die Explosion hat aber auch einen Sachschaden in Milliardenhöhe verursacht, fast 80.000 Wohnungen wurden zerstört oder zumindest beschädigt. Bereits vor dem 4. August 2020 steckte das Land in einer tiefen Währungs- und Wirtschaftskrise, mindestens jeder zweite Haushalt ist heute von Armut betroffen.

Copland will sich den Protesten nicht anschließen. Isaacs Tod hat sie zu sehr traumatisiert, sie bringt es nicht übers Herz, in den Libanon zurückzukehren. Der libanesische Staat selbst hat Copland erst vor wenigen Wochen erstmals kontaktiert: Ausgerechnet Innenminister Fehmi, der vielen als Bremser der Ermittlungen gilt, sprach ihr nach fast einem Jahr erstmals im Namen des Landes seine Anteilnahme aus. (Flora Mory, 4.8.2021)