Die Sache mit dem Tellerrand, über den hinauszuschauen man nicht ganz vergessen oder verlernen sollte, birgt eine Tücke: den toten Winkel. Also das, was, sich unmittelbar hinter dem Rand – oder knapp unterhalb davon – befindet.

Was sich dort "versteckt", wird leicht übersehen. Es existiert nicht – oder wird, im allerbesten Fall, geringgeschätzt. Schon aus Gewohnheit: Wenn das, was da vor der Haustür liegt, etwas "könnte", wäre man schließlich längst drüber gestolpert. Jemand hätte einen darauf hingewiesen. Oder es wäre in irgendwelchen schlauen Regionsguides aufgelistet. Das wäre naheliegend – eben weil es nahe liegt.

Thomas Rottenberg

Aber vielleicht – respektive: vermutlich – bin ich und sind wir da ja die besonders ignoranten Ausnahmen von der Regel. Und außer uns kennt jede und jeder die Gegend hinter Schwechat längst und seit Jahren auswendig. Weiß von Königskogel und Andreasberg, findet den Weg zwischen Kuckuckberg und Türkenhügel mit geschlossenen Augen, weiß, was, wer oder wo ein/das/der Höchsenbühel ist – und hat auf der (natürlich erfolgreichen) Suche nach der Ressner Kapelle schon lange kein Auge mehr für die Wildschweine im Ellender Wald – geschweige denn für die Kellergassen von Arbesthal oder den Wehrturm aus dem 11. Jahrhundert, der über Scharndorf wacht.

Thomas Rottenberg

All das ist vermutlich allgemein bekannt. Ich treffe auf meinen Lauf- oder Radausflügen in diesen Nahbereich des Tellerrandes der Stadt nur deswegen so gut wie nie jemanden, weil außer mir jeder und jede die Welt zwischen Flughafen und Hainburg seit langem und zur Gänze kennt: "Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen." Das gilt nicht nur bei Rettungs-, Feuerwehr- und Polizeieinsätzen, sondern auch südöstlich von Wien: Diese Landschaft ist abgefrühstückt. Totgelaufen und zu Ende beradelt. Die Reise hierher – egal ob mit S-Bahn, Motorrad oder Auto zum Laufen oder mit dem Rad – zahlt sich deshalb schon lange nicht mehr aus. Schließlich haben Sie sich ja schon als Kind in Carnuntum gelangweilt – wieso sollte das heute also anders sein?

Thomas Rottenberg

Verstehen muss ich es ja nicht: Der durchschnittliche Rennradfahrer (und auch die Rennradfahrerin) aus dem Wiener Raum spult lieber die Strecke nach Greifenstein und Tulln zum 250. Mal ab, als sich nur einmal auf den Weg zum Braunsberg nach Hainburg zu machen. Dabei ist der knackige 18-Prozent-Anstieg auf den Hügel ja nur kurz – und der Blick nach Bratislava eine "würdige" Belohnung. Ganz abgesehen von dem schönen Kribbeln im Bauch, wenn das Auge donauaufwärts schweift. Heimat kann etwas Feines sein – und um sie zu spüren, muss man nicht zwingend mühsam und lange irgendwohin reisen: Dieses Gefühl gibt es "ab Haustür".

Nicht nur für Ausdauerwunder: Was mit Gravel- und Rennrad geht, erreicht man auch mit dem E-Bike – und der Weg zur "rettenden" S-Bahn ist gerade in diesem Eck Österreichs nie weit.

Thomas Rottenberg

Das Gleiche gilt auch fürs Laufen: Wieso für das Gros der Wiener Laufgemeinde schon der Liesingbachtrail (der natürlich kein Trail ist) exotisch ist, konnte ich noch nie nachvollziehen.

Ich kenne Menschen, die sich dreimal pro Woche mit dem Auto jeweils 45 Minuten quer durch die Stadt zum Stadionparkplatz stauen, dann auf der PHA zweimal hin und her laufen – und wieder heimfahren.

Die Idee, es (wenn sie schon mit dem Auto anreisen) einmal anderswo zu versuchen, kommt ihnen nicht – oder aber wird als "grotesk" abgelehnt.

Thomas Rottenberg

Ewig schade. Weil es wahrlich keiner großen Orientierungskünste bedarf, um sich zwischen Schwechat (dem Fluss), Liesingbach, Mitterbach und Kaltem Gang (hier im Bild) nicht zu verlaufen – und zwar ganz egal, wie weit man sich "in die Pampa" hinaustraut: Die Flussläufe geht es fast überall auf gut ausgebauten Rad- oder sogar schön ausgeschilderten Laufrouten entlang.

Und wer doch den Überblick verliert, muss – egal an welchem Gewässer – ohnehin nur in Flussrichtung traben, um irgendwann wieder allerspätestens in Schwechat anzukommen.

Thomas Rottenberg

Oder aber man läuft im freien Feld – und orientiert sich an den Flugzeugen. Respektive, wenn da wirklich einmal niemand startet und landet, am Tower des Airports. Der ist als echte Landmark von fast überall zu sehen – oder zumindest zu spüren: Ist man zur richtigen Tageszeit im "richtigen" Winkel zu ihm unterwegs, sieht es oft fast so aus, als würden sich auch die Sonnenblumen nach ihm ausrichten. Tun sie natürlich nicht – aber die Idee hat etwas.

Thomas Rottenberg

Die weiten und langen Sonnenblumenfelder sind es auch, die mir diese Gegend in den letzten Wochen so ans und ins Herz haben wachsen lassen, egal wann, egal wo – beim Laufen am Abend oder in der sengenden, schattenlos-staubigen Hitze einer Radrunde.

Ja, ich mag Sonnenblumen. Immer schon. Aber gerade jetzt, wo sie in voller Pracht ihr Köpfe der Sonne zuwenden und auf dem Feld besonders schön sind. Auch weil sie Optimismus verbreiten. Schließlich sind die Korbblüter, wenn ich es richtig verstanden habe, auch Klimaschützer: Eine durchschnittlich große Pflanze bindet täglich so viel CO2, wie in bis zu 100 Kubikmetern um sie in der Luft ist.

Thomas Rottenberg

Und wenn ich schon die Chance habe, hier einmal von meinen Lieblingsblumen zu erzählen, hänge ich gleich noch ein Kapitel aus dem Lexikon des nutzlosen Wissens dran. Ob es wirklich stimmt, was mir ein Gärtner da mal erzählte, weiß ich nicht – aber die Geschichte vom "Heliotropismus" ist zu nett, um sie nicht trotzdem zu erzählen. Die Sonnenblume folgt mit ihrem Haupt demnach der Sonne, um während der Zeit bis zur Vollblüte Schatten zu spenden: Ihr rauer Schaft speichert Wasser so besser – und das braucht die Pflanze, bis sie "reif" ist. Ab dann schauen die Blumen stur nach Osten. Ob das so wirklich zu 100 Prozent stimmt, fragen Sie aber bitte den Pflanzenkundler oder die Pflanzenkundlerin ihrer Wahl.

Thomas Rottenberg

Oder aber Sie kommen genau in diese Ecke Niederösterreichs und folgen den "Ackerkultour"-Schildern, mit denen seit Mai (und noch bis Oktober) ein interaktiver Landwirtschafts-Lehrpfad unter dem Motto "Zeig mir, wie's wächst" kreuz und quer über die Feldwege markiert ist.

Thomas Rottenberg

Die Route von Info-Kiste zu Info-Kiste ist so fein und anschaulich gestaltet, dass sogar Stadtkinder wie ich verstehen, was da wie, wo, wann und warum "am Feld" passiert. Ich sage das nicht von ungefähr: In meinem familiären Lehrer- und Lehrerinnenumfeld sind Geschichten von Stadtkindern, die glauben, dass Spaghetti auf dem Feld wachsen, Kühe lila sind und Spinat aus der Ziegelei kommt, alles andere als "Wuchteln".

Thomas Rottenberg

Ach ja: Dass wir mit den Rädern über die Info-Kisten stolperten, soll niemanden davon abhalten, diese Tour zu laufen oder zu spazieren. Die Ackerrunde ist nämlich nur sechs Kilometer lang, beginnt und endet beim Bahnhof Gramatneusiedl. Nehmen Sie Wasser mit: Hier knallt die Sonne erbarmungslos runter – aber freuen Sie sich auch auf andere Schmankerln. Etwa den Modellflugzeug-Flugplatz des MFC Velm.

Der mitten in die Felder gesetzte "Airport" bietet nämlich alles, was Modellflugzeugliebhaber (ich behaupte ganz keck, dass hier primär Männer spielen) glücklich macht: eine Rasen-Start- und -Landezone mit knallrot gummiertem "Aufenthaltsbereich" für Piloten, Montagetische mit Stromanschluss – und akkurat quaderförmig getrimmte Hecken, hinter denen man eventuell auch in Deckung gehen kann.

Und, ganz wichtig, mehrere "Betreten verboten"-Hinweise – obwohl hier eh niemand ist.

Thomas Rottenberg

"Betreten erlaubt" heißt es dagegen anderswo: In Scharndorf gibt es nämlich nicht nur einen Wehrturm aus dem 11. Jahrhundert – der heute (genauer: seit dem Mittelalter) Teil der Kirche ist – und Österreichs mutmaßlich einziges Kinderwagenmuseum, sondern auch einen öffentlichen Swimmingpool mitten im Ort – und zwar auf dem Hauptplatz.

Was anderswo bestimmt als "Intervention" im öffentlichen Raum präsentiert würde, ist hier seit Jahren so selbstverständlich, dass es auf der Webseite der Gemeinde nicht einmal erwähnt wird.

Thomas Rottenberg

Der Vater, der da seinen beiden Kindern beim Schlauchbootfahren zusah, erzählte, dass der "Pool" einst eine Pferdeschwemme gewesen sei. Heute diene er als Löschteich, aber eben auch als Schwimmbad. "Dass niemand da ist, wundert mich aber selbst – vermutlich ist es den Leuten zu heiß." Was der gute Mann verschwieg: Mehr als 15 Jahre lang fand hier ein legendäres Sautrogrennen statt. Ob und wann es das wieder geben wird, ist unklar: Der Link zur Webseite des Rennvereins führt ins Leere. Und auf der Facebook-Seite der Sautrogfans wird im "aktuellsten" Eintrag (aus dem Juni 2020) das Vorjahresrennen abgesagt – aber für den 14. August 2021 angekündigt. Ich bin ein wenig skeptisch …

Thomas Rottenberg

Aber hier, im angeblichen Niemandsland hinter der Stadt, lassen sich noch ganz andere seltsame Geschichten entdecken. Etwa die der "Ressner Kapelle": Wer von Schwechat-Neukettenhof über die S1 auf die Feldwege Richtung Rauchenwarth – also nach Südosten – läuft, sieht nach drei oder vier Kilometern einen kleinen Hügel aus der Ebene wachsen.

Oben drauf steht ein Gebäude, das aus der Ferne fast toskanisch anmutet. Aus der Ferne, wohlgemerkt. Denn wenn man bis zum Königskogel (so heißt der Hügel) trabt, stockt fast jedem und jeder der Atem – auch wenn man sich (so wie wir) vom "Betreten verboten"-Schild auf Distanz halten lässt.

Thomas Rottenberg

Auf der Anhöhe hat ein Herr Ressner nämlich nicht nur eine Privatkapelle – zur Erinnerung an fünf hier gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von russischen Soldaten angeblich ermordete Familien – errichtet, sondern auch ein Sammelsurium an Seltsam- und Geschmacklosigkeiten aufgetürmt. Das sucht seinesgleichen: Eine Allee von Engeln führt zu einem Zirkuszelt vor und einer Gebäudegruppe hinter einem massiven Zaun, über die sich genau ein positiver Satz sagen lässt: Von dort muss der Blick auf die Stadt phänomenal sein – vor allem weil man von hier oben die Bauten auf dem Hügel selbst nicht sieht. Seltsam ...

Thomas Rottenberg

Ich habe all das erst vor kurzem entdeckt.

Oder, genauer: begonnen zu entdecken. Ich finde das spannend.

Aber dass ich, dass wir auf unseren Läufen und Radausflügen hier so gut wie nie auf andere Menschen stoßen, irritiert mich doch ein wenig.

Kann es sein, dass außer uns alle all das schon kennen?

Oder sind Sie so wie wir – und haben beim Über-den-Tellerrand-Schauen vergessen, dass die Welt nicht immer erst ganz ganz weit hinter dem Horizont beginnt, interessant zu werden? (Thomas Rottenberg, 3.8.2021)

Weiterlesen:

Burgenland nicht extrem: Gravelbiken im Seewinkel

Wie Longruns nicht langweilig werden

Laufen wie im Heimatfilm: Rund um Warth

Thomas Rottenberg