Am 9. November führte die Exekutive eine groß angelegte Razzia gegen angebliche Muslimbrüder durch.

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Lange war es ruhig um die Hausdurchsuchungen bei angeblichen Muslimbrüdern, die im vergangenen November eine Woche nach dem Terroranschlag in Wien erfolgten. Nun lässt das Oberlandesgericht Graz (OLG) mit einem Beschluss aufhorchen, der dem STANDARD in voller Länge vorliegt. Demnach waren die Hausdurchsuchungen bei neun Beschuldigten in der Causa rechtswidrig.

Die Betroffenen hatten gegen die Zwangsmaßnahme Beschwerde eingelegt und bekamen recht: Laut Gericht reichte der Verdacht gegen die Betroffenen nicht aus, um die Durchsuchungen durchzuführen. Das bedeutet nicht, dass die restlichen Hausdurchsuchungen rechtmäßig waren. Doch nur diese neun Personen reichten laut Auskunft des OLG Beschwerde ein.

Scharfe Kritik

Das OLG Graz kritisiert die Durchsuchungen in seiner Begründung durchaus scharf: "Die Verdachtsannahmen dürfen sich nicht in Mutmaßungen und Spekulationen erschöpfen, sondern müssen sich aus einer Bewertung zugänglichen Beweisergebnissen ableiten lassen", heißt es an einer Stelle.

Bei einem Verdächtigen gehe die These, dass eine bestimmte Moschee unter dem Einfluss von Muslimbrüdern stehe, "über Mutmaßung nicht hinaus". Der anonyme Hinweisgeber, auf den sich die Ermittlungen maßgeblich stützen, habe keine Tatsachenwahrnehmungen geäußert – etwa dass er gesehen hätte, dass dieses oder jenes passiert sei. Vielmehr habe er "primär Einschätzungen" geliefert. Auch Gutachten, die von der Staatsanwaltschaft Graz eingeholt wurden, werden kritisch gesehen.

"Familienhaftung" sei keine geeignete Methode

Das Gericht befindet außerdem, dass gemäß Verfahrensergebnissen ein Hinweis dafür fehlt, wonach jeder Muslimbruder "gleichzeitig auch ein (...) Mitglied oder Förderer einer terroristischen Vereinigung mit entsprechender Zweckausrichtung, insbesondere der Hamas (...)" sein könnte, und verweist auf die "Vielfältigkeit" der Strömungen innerhalb der Gruppierung. Bezüglich Verdachtsmomenten, die auf familiären Verhältnissen basieren, hält das Gericht fest, "dass 'Familienhaftung' für sich allein aus Sicht des Beschwerdegerichts ganz grundsätzlich keine taugliche Beweisführungsmethode ist".

Die Muslimbruderschaft ist in Österreich nicht offiziell als Terrororganisation eingestuft, ihre Symbole sind allerdings verboten. Die Staatsanwaltschaft Graz verneinte in der Vergangenheit auf STANDARD-Anfrage mehrmals, dass die offizielle Einstufung als Terrororganisation bei den Ermittlungen eine tragende Rolle spiele – solange die Kriterien gemäß Strafgesetzbuch erfüllt seien.

Ermittlungen laufen weiter

Aus Sicht der zuständigen Staatsanwaltschaft in Graz hat der aktuelle Beschluss des OLG Graz keine Auswirkungen auf das Ermittlungsverfahren. Dieses laufe weiter, erklärt ein Sprecher. Das Landesgericht als Bewilligungsinstanz habe im Bezug auf die Verdachtslage vor den Hausdurchsuchungen anders entschieden als nun das Oberlandesgericht. Das sei zu akzeptieren.

Das Innenministerium kommentiert den OLG-Entscheid auf STANDARD-Anfrage folgendermaßen: "Das entschiedene Vorgehen gegen jegliche Gruppierungen, die demokratische Grundprinzipien, wie beispielsweise das Recht auf Gleichbehandlung oder Meinungsfreiheit in Frage stellt, ist Teil der österreichischen Sicherheitsstrategie. Der Schutz des demokratischen Prinzips ist daher oberste Prämisse der österreichischen Staatschutzbehörden." Weiters verweist das Innenministerium auf die Einschätzung der Muslimbruderschaft durch den deutschen Verfassungsschutz, laut dem das Credo der Bewegung "unverändert" laute: "Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unserer Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch". Denn der deutsche Verfassungsschutzbericht gelte als "Benchmark für Verfassungsschutz-Behörden."

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sprach damals nach den durchgeführten Razzien von einem "entscheidenden Schlag" gegen die Muslimbruderschaft und die Hamas in Österreich. Auch Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) beurteilte die Operation als "Schlag gegen die Muslimbruderschaft".

Sicherstellungen

Das Gericht stellte im Bezug auf manche Beschuldigte außerdem fest, dass ihr Bargeld zu Unrecht sichergestellt wurde, bei einem Betroffenen betrifft das auch andere Wertgegenstände wie Schmuck. Bei einem Verdächtigen in der Causa verstieß zudem die gewaltsame Öffnung der Wohnungstür durch die Exekutive gegen das Gesetz.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die sichergestellten Gegenstände automatisch an die Betroffenen zurückgegeben werden müssen. Auch darüber, ob sie für die Ermittlungen weiterhin eine Rolle spielen können, ist damit nicht entschieden. Diese Fragen müssen gesondert geklärt werden, heißt es seitens des OLG Graz. Zuerst durch das Gericht erster Instanz – das Landesgericht Graz – und erst, wenn es darüber erneut Beschwerden gibt, in weiterer Folge durch das Oberlandesgericht.

Anwälte: "Justiz als Bollwerk"

Für Beschuldigten-Rechtsanwalt Richard Soyer ist es eine erfreuliche, angesichts der Sachlage nicht ganz unerwartete Entscheidung. Immer mehr erweise sich die Justiz als Bollwerk gegen eine rechtsstaatlich defizitäre Regierungspolitik.

Laut Rechtsanwalt Andreas Schweitzer, der ebenfalls Beschuldigte vertritt, wurde kürzlich auch per Beschluss festgestellt, dass in der Causa die Akteneinsicht nicht hätte verweigert werden dürfen, wie es am Anfang der Fall gewesen sei. Angesichts der jüngsten Entscheidung sagt Schweitzer: "Die Rechtsstaatlichkeit siegt."

Beschuldigter: "Es ist nicht lustig"

"Es ist nicht lustig, wenn plötzlich Maskierte mit Sturmgewehren in den Kinderzimmern stehen", schilderte Herr O., wie er die Hausdurchsuchung der Polizei im Rahmen der "Operation Luxor" im vergangenen November erlebt hat. Die von der Staatsanwaltschaft Graz angeordnete Razzia in den frühen Morgenstunden hat ihn, seine Frau und die vier gemeinsamen Kinder sichtlich getroffen. O. soll ein Mitglied der Muslimbruderschaft sein – der Verdacht basiert primär auf einem abgehörten Telefongespräch.

Der ehemalige Funktionär einer anerkannten muslimischen Interessenvertretung wurde dabei von der aktuellen Vorsitzenden angerufen und gefragt, ob er etwas über eine 10.000-Euro-Spende an den Verein wisse. Seine Antwort: Er habe keine Ahnung. Wie sich herausstellte, kam das Geld aus einer aufgelösten Stiftung des ehemaligen Vorsitzenden der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreichs – was die Grazer Anklagebehörde nicht sonderlich interessierte. Noch immer wird gegen den von Clemens Lahner vertretenen O. ermittelt. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, Michael Möseneder, Fabian Schmid, 3.8.2021)