Bei der Empörung über "No Paraderan" ging es darum, dass in dem Tanzstück zu wenig getanzt und das Mittelmaß von Kunstschickis parodiert wurde.

Foto: Laurent Pailler

Am Anfang ist alles fast normal in Marco Berrettinis Stück "No Paraderan" bei Impulstanz im Akademietheater. Eine ballerinenhafte Prinzessin und eine exaltierte Schönheit im Designerkleid bewegen sich vor einem roten Vorhang zu Songs und Schmähs von Dean Martin. Die Stimme des berühmten Sängers, Schauspielers und Entertainers malt aus dem Off den atmosphärischen Hintergrund von "No Paraderan" aus.

Man stelle sich vor: Las Vegas in den 1960ern, Wirtschaftsaufschwung, anschwellende Unterhaltung, abschwellender Puritanismus. Eine große Sause der Permissivität bahnte sich an. "You're not drunk if you can lie on the floor without holding on", scherzte "Dino" über seinen Ruf als smarter Tschecherant. Zu dieser Soundkulisse schleudert es die Prinzessin und die Designerschönheit aus ihrer Normalität. Nach und nach treten acht Performerinnen und Performer auf die Bühne und in die Nähe eines gut bestückten Barwagens. Wen sie darstellen, ist bald klar: jene Leute, die einfach zum "Kultur"-Spiel dazugehören. Dieses läuft häufig auf Lifestyle-Zirkus mit Wellnesszone und sexy Abenteuerparty hinaus. So war's eigentlich immer schon – auch 2004, als "No Paraderan" in Paris uraufgeführt und prompt zum Skandal wurde.

Zum Ärgernis reicht es, trotz erheblich gewandelter Zeiten, auch heute noch. Marco Berrettini (57) gilt zwar als Italiener, ist aber im deutschen Aschaffenburg geboren. Er hat seine Tanzkarriere früh in Nachtklubs begonnen, gewann 1978 die German Disco Dance Championship, lernte unter anderen bei Pina Bausch, übersiedelte nach Frankreich, gründete dort seine bestehende Company neu. Heute lebt er in Genf. Dieser Künstler kennt die Sonnen- und Schattenseiten des "Kulturlebens". Sein Skandal von 2004 war ein anderer als jene der Gegenwart. Die meisten Aufreger von heute entstehen, wenn eine Person des Kulturlebens in Verdacht gerät, sich respektlos gegenüber anderen verhalten zu haben.

Zu wenig Tanz?

Bei der Empörung über "No Paraderan" ging es darum, dass in dem Tanzstück zu wenig getanzt und das Mittelmaß von Kunstschickis parodiert wurde – und um den Schluss, in dem sich das Blatt in Richtung Publikum wendet. Dass Letzteres auch nach 17 Jahren noch einfahren kann, war bei der Aufführung am Montag im Wiener Akademietheater zu erfahren. Berrettini und die Seinen stellen sich zum Abschied einzeln vor, und alle nacheinander behaupten, dass dies ihre letzten Auftritte gewesen seien. Das Publikum verweigert den Applaus, weil es erkennt, dass es sich hier um eine ironische Fiktion handelt. Doch Berrettini will die Zuschauerschaft mit ihrer vermeintlichen Abgeklärtheit konfrontieren: Wir hören nicht auf, bevor ihr die Abtretenden nicht einzeln beklatscht.

Berrettini selbst übernimmt die Rolle des ganz Hartnäckigen, der nicht vor "seinem" Applaus abgehen will. Und siehe da, es funktioniert! Er soll sich schleichen, "du bist ein Scheißwichser", ruft ein junger Mann aus den hinteren Reihen. Jemand schreit etwas mit "Motherfucker". Berrettini ruft die Vergangenheit an – "Wollt ihr denn die totale Vorstellung?" – und meint, man solle sich vorstellen, dass die Türen des Theaterraums versperrt wären. Die Anspannung steigt, und deutlich ist zu spüren: Das Theater lebt, und es trägt eine Stimmung in sich, wie sie auch im Straßenverkehr herrschen kann. Der Test, den Marco Berrettini hier durchführt, zeigt: Auch das Kulturpublikum setzt sich aus ganz normalen Leuten zusammen, denen manchmal der Kragen platzt. Und nicht alle werden durch Kunstkonsum allein zu besseren Menschen. (Helmut Ploebst, 3.8.2021)