Kommt mit einer Trilogie über das fragile "Gebäude" Europa zu den Festwochen: Regisseurin und Performerin Phia Ménard.

Foto: Bea Borgers

Hier entsteht ein himmelwärts ragender Turm: "Temple Père" mit der sadistischen Bauherrin (Inga Huld Hákonardóttir, re.)

Christophe Raynaud de Lage

Um halb zehn zeigt die Uhr bei der Apotheke bereits 34 Grad an. Das kümmert aber niemanden, denn die Platanen in der Altstadt von Avignon bieten Schatten für alle. Auch für müdes Theatervolk, das es in der Nacht nicht mehr nach Hause geschafft hat. In der mittelalterlichen Papststadt gehen zur Zeit des berühmten Theaterfestivals – es endete am Wochenende – die Tag- und Nachtzeiten äußerst fließend ineinander über. Der Verkehr ist aus dem innersten Zentrum verbannt, um den vielen Straßenkünstlern und ihrem spontanen Publikum Platz zu machen. Die Fassaden der Häuser sind in dicken Schichten mit Plakaten zugeklebt.

Obwohl sie am Vorabend eine wahrlich erschöpfende Show hatte, streift auch Phia Ménard durch die vormittägige Hitze. Wir treffen uns zum Gespräch. Ménard wird mit Trilogie des Contes Immoraux ("Unmoralische Geschichten") am 24. August die zweite Tranche der Wiener Festwochen eröffnen.

Wiener Festwochen

Kein Café will uns nehmen (wir wollen nicht essen). Dennoch schreitet die Künstlerin entspannt und mit unnachgiebiger Eleganz von Gastgarten zu Gastgarten – Aufgeben ist keine Option. Das weiß jeder, der gesehen hat, wie Ménard vor zwei Jahren im Museumsquartier im Alleingang den Parthenon der Akropolis aus Kartonschablonen nachgebaut hat (und nicht nur das). Maison Mère ("Mutterhaus") war ein echter Knaller.

Jonglieren mit Kakteen

Wir landen – die französischen Wirte sind stur – im Festivalzentrum. Die zurückhaltende, fast leise Stimme, mit der sie von ihren Themen erzählt, steht ganz im Gegensatz zur schweißtreibenden, actionreichen Arbeit, die sie in Contes Immoraux auf der Bühne verrichtet bzw. verrichten lässt. Hier wird etwas geboten! "Kein Applaus für Scheiße" – um einen hier passenden Titel von Florentina Holzinger zu zitieren. Die beiden gehören zu den Anpackerinnen im Performancebetrieb, Körper sind dazu da, um eingesetzt zu werden.

Phia Ménard kommt aus dem Zirkus und hat dort Körperbeherrschung gelernt. Sie war Virtuosin im Jonglieren, hat sich dann aber weiterentwickelt und ihre Fertigkeiten und ihr Wissen um Materialien in anderen künstlerischen Prozessen eingesetzt. Sie hat mit Kakteen jongliert und mit Eiswürfeln (die sie stets bei einem Fischhändler billig kaufte und die dementsprechendes Odeur verbreiteten), sie hat aber auch mit Wind experimentiert, etwa in L’après-midi d’un foehn.

"Warum ich?"

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Die Verwandlung der Materialien, etwa das Schmelzen des Eises zu Wasser (z. B. in der Eisblock-Performance P.P.P., 2006), war dabei jeweils entscheidend, sagt sie und bringt dies in Verbindung mit ihrer eigenen Transformation vom Mann zur Frau. 2008 ist Philippe Ménard erstmals als Phia Ménard getourt, mit der von ihr bereits 1998 in Nantes gegründeten Compagnie Non Nova.

2016 bekam sie von der Documenta in Kassel den Auftrag für ein Stück über Europa. "Warum ich?", dachte sie damals und ist bis heute darüber verwundert. Vielleicht war es gerade das Unzuordenbare ihres Schaffens, das Kassel interessiert hat. Jedenfalls erschloss die dort entstandene Performance Maison Mère Ménards Arbeit ein noch größeres Publikum.

Turmbau zu Babel

Maison Mère (der Karton-Parthenon) bildet in der nunmehrigen Trilogie den Teil eins. Das Ikea-haft zusammengestöpselte Gebäude steht für die Brüchigkeit des europäischen Kontinents. Und dieser setzt sich in Teil zwei, Temple Père ("Father Temple") fort. Nichts Geringeres als der Turmbau zu Babel steht auf dem Plan. Dem Diktat einer von mythischen Erzählungen durchdrungenen Domina auf Kothurnen gehorchend (Inga Huld Hákonardóttir), errichten akrobatische "Sklaven" im Eiltempo ein monströses, in den Himmel reichendes Gebäude.

Von diesem steigt in Teil drei, La Rencontre Interdite, Ménard schließlich als nackter Mensch herab, fasst sich einen Feuerlöscher, das Symbol für Problemlösung und Sicherheit, und schreitet zur Tat. Ein rätselhaftes Ende, das auch eine Reaktion auf die Klaustrophobie im Theater-Lockdown darstellt, den sie ablehnte. Das sadistische Temple Père, sagt sie, ist auch ein Stück für bzw. über ihren Vater, jenen auch in der Literatur von Didier Eribon oder Édouard Louis im Zentrum stehenden Vertreter der von der Politik vergessenen französischen Arbeiterschaft. (Margarete Affenzeller, 4.8.2021)