Ländliche Idylle zwischen Kühen und Ferienhaus: Das Model Tess McMillan, gesehen von der New Yorker Fotografin Des Magness.

Foto: Des Magness

Allseits ist die Rede von Curvy Models oder Body-Positivity. Das Model Tess McMillan nimmt diese Begriffe nicht einmal in den Mund. Das verwundert nicht: In der Modebranche wird bis heute ungern über Körpergrößen geredet. Dann schon eher über das Einbeziehen unterschiedlicher Formen von Schönheit.

McMillan erinnert mit ihrer langen, lockigen, roten Mähne, den feinen Sommersprossen auf ihrer schneeweißen Haut und ihrer weiblichen Figur an eine Renaissance-Schönheit. Sie ist 21 Jahre alt, 1,78 Meter groß und wiegt 66 Kilo. "Ich bin eine amerikanische Größe 8" (EU: 38, Anm.), erklärte sie 2019 in einem Videotagebuch für die Vogue.

Model Tess McMillan modelt für die Vogue und für Labels wie Dolce & Gabbana oder Marc Jacobs

Kurz zuvor war sie über die Social-Media-Plattform Instagram entdeckt worden. Mittlerweile modelt McMillan für die italienische und britische Vogue oder das Magazin i-D, wird von Labels wie Dolce & Gabbana oder Marc Jacobs für Modeschauen und Kampagnen gebucht.

STANDARD: Sie leben heute in Brooklyn. Aufgewachsen aber sind Sie in Texas. Mit welchem Schönheitsideal sind Sie groß geworden?

Tess McMillan: Texas ist ein Majority-Minority-Bundesstaat, das heißt, er besteht aus vielen verschiedenen Communitys, die unterschiedliche Schönheitsideale haben. Das hat mich geprägt.

STANDARD: Waren Sie mit Ihrem Aussehen zufrieden?

McMillan: Als Teenager wäre ich gern fünf Zentimeter kleiner gewesen und hätte am liebsten seidenglattes Haar gehabt. Ich wollte mich in vielerlei Hinsicht kleiner machen, bis hin zu meiner Stimme und meinem Lachen, das mir zu mächtig und zu laut erschien.

STANDARD: Haben Sie davon geträumt, Model zu werden?

McMillan: Gar nicht, das Modeln war nie auf meinem Radar. Ich hatte absolut keine Ahnung, dass das ein Job ist, mit dem ich erfolgreich sein könnte, geschweige denn, dass ich überhaupt die Möglichkeit hätte zu modeln.

STANDARD: Wie wurden Sie denn dann entdeckt?

McMillan: Von einer Fotografin auf Instagram, ich war damals noch in der High School. Sie hat meine Bilder an verschiedene New Yorker Agenturen geschickt. So begann das alles – heute werde ich von einer der besten Agenturen der Welt repräsentiert.

McMillan, Jahrgang 2000, gehört zur Generation Smartphone, sie ist mit der ständigen Selbstbespiegelung auf Instagram oder Tiktok und mit Sendungen wie America’s Next Topmodel groß geworden. Die Amerikanerin, die Frauen wie Grace Jones sowie Brigitte Bardot bewundert, ist dabei, sich einen eigenen Platz in der Welt der Mode zu erobern – auch wenn ihr bislang überschaubare 39.000 Menschen auf Instagram folgen.

Entdeckt wurde das Model, Jahrgang 2000, über Instagram

Zwischen Selfies, Naturaufnahmen und Freundschaftsbildern findet man auf ihrem Account immer wieder Bilder von gutem Essen: hier eine Garnelenplatte, da eine Geburtstagstorte, dort Croissants im Pariser Café Flore. Ihre geposteten Bilder sind keine perfekten Instagram-Selfies, wie bei vielen anderen Stars der Branche, eher die Fotos einer entspannten jungen Frau.

STANDARD: Während der Pandemie hat sich viel in die digitale Welt verlagert. Wie halten Sie es mit Instagram?

McMillan: Ich bin ziemlich aktiv. Doch ich halte mich nicht an einen Zeitplan oder andere Vorgaben. Ich mag Instagram, weil ich mich und meine Ideen ausdrücken und mit anderen Menschen teilen kann. Was ich nicht mag, ist, dass die App in vielerlei Hinsicht zu einer Linse geworden ist, durch die Menschen betrachtet werden. Ich bin mir sicher, dass es für einige Models möglich ist, via Social Media zu arbeiten, meine Sache ist das nicht. Ich versuche, meine Arbeit und Instagram so weit wie möglich zu trennen.

STANDARD: Models wie Sie, Ashley Graham, Precious Lee, Paloma Elsesser und Jill Kortleve haben die Branche diverser gemacht. Werden nun Körper in allen Größen akzeptiert?

McMillan: Ich finde die Formulierung interessant, mit der Sie mir diese Frage stellen: "Models wie ich." Ich betrachte uns alle als einzigartige Persönlichkeiten. Es schränkt jede Einzelne von uns ein, wenn wir in eine Gruppe gepackt werden. Andererseits verstehe ich diese Schubladisierung schon.

STANDARD: Aber hat sich die Branche denn nun wirklich verändert?

McMillan: Seit ich als Model angefangen habe, beobachte ich in der Modeindustrie ständige Veränderungen. Models müssen zum Beispiel nicht mehr bestimmten Körpergrößen entsprechen, viele Modemarken haben in der Hinsicht ihre Einstellung geändert. Ich glaube, die daraus entstehende Arbeit ist so viel besser geworden. Ich hoffe, dass die Welt diese Entwicklung nicht als Trend sieht, sondern als etwas, das bleibt.

Das würde sich für viele Unternehmen lohnen. Während sechs von zehn Frauen Größe 42 und mehr tragen, liegt die Konfektionsgröße bei Models zwischen 34 und 36. Ab Größe 38, eigentlich eine Durchschnittsgröße, gilt man in der Modeindustrie als Plus-Size-Model.

Als das erste offizielle Plus Size-Supermodel galt Carre Otis, Ex Ehefrau von Mickey Rourke. Nachdem sie ihre Essstörungen und ihre Tabletten- und Drogensucht in den Griff bekommen hatte, nahm sie zehn Kilo zu. Aufgrund ihrer zuvor schon erfolgreichen Karriere engagierten sie weiterhin bekannte Designer und Magazine. Sie blieb dennoch eine Ausnahme.

Erst 2009 änderten sich dank Model Chrystal Renn die Dinge. Ihr damals erschienenes Buch Hungrig erzählt von obsessivem Fitnesstraining und von Haarausfall aufgrund von Unterernährung. Langsam begannen auch Moderedakteurinnen wie Franca Sozzani umzudenken. 2011 zeigte das Juni Cover der italienischen Vogue drei größere Models in Unterwäsche, fotografiert von Steven Meisel. Erst im Jänner 2021 allerdings inszenierte die amerikanische Vogue die Kurven von Model Paloma Elsesser auf dem Cover.

STANDARD: Auch auf den Laufstegen wurde in den letzten Jahren mehr auf Diversität geachtet. Sie liefen für Dolce & Gabbana und Simone Rocha. Sind das noch immer Ausnahmen?

"Aufträge von Dolce & Gabbana oder Simone Rocha waren früher undenkbar für mich." Model Tess McMillan
Foto: Des Magness

McMillan: Ich bin erstaunt und glücklich darüber, vor ein paar Jahren waren solche Aufträge noch völlig undenkbar für mich. Dennoch: Die Projekte, an denen man mitarbeiten kann, wenn man keine Größe 34 ist, sind immer noch sehr überschaubar. Insofern stehen wir noch am Anfang, es liegt ein langer Weg vor uns.

STANDARD: Was hat Sie an der Modebranche überrascht?

McMillan: Wie nett alle sind. Die Art und Weise, wie Menschen aus der Modebranche in Filmen und im Fernsehen dargestellt werden, all diese Klischees – ich hatte Angst, dass ich dort gleich in Stücke gerissen werde! Stattdessen wurde ich von interessanten und liebenswürdigen Menschen in eine tolle Gemeinschaft aufgenommen.

STANDARD: Hat Mode Sie denn schon immer interessiert?

McMillan: Allerdings! In der Mittelschule habe ich mir auf Youtube Videos von Designer-Kollektionen angesehen. Mit meinen Freunden habe ich mir tolle, extrem akribisch inszenierte Fotoshootings ausgedacht. Wir haben mit verrückten, dramatischen Make-up-Looks experimentiert.

STANDARD: Das Verkleiden war Ihr Ding?

McMillan: Absolut. Die meisten meiner Sachen sind noch heute Secondhand, aber ich kaufe auch gerne neue Statement-Stücke. Wenn ich mir Fotos von mir als Kleinkind anschaue, muss ich sagen, war ich mit meinen kleinen Babyfellmänteln und Mary-Janes aus Lackleder verdammt schick gekleidet. In meiner Vor-Teenager-Zeit habe ich mit Drucken, Farben, Pullovern, Strumpfhosen und Mützen experimentiert. In der Mittelschule trug ich Uniform, da war ich in meinem täglichen modischen Ausdruck limitiert. In der Highschool hatte ich plötzlich keinen Spaß mehr an der Mode.

STANDARD: Wieso?

McMillan: Ich glaube, ich war verunsichert davon, wie ich von anderen wahrgenommen wurde. Ich habe versucht, in Jeans und schwarzen Oberteilen möglichst nicht aufzufallen.

STANDARD: Und heute?

McMillan: Jetzt nach der Quarantäne spüre ich die zwölfjährige Maximalistin in mir. Ich will kein Understatement, sondern Spaß haben an Farben und Mustern und experimentellen Make-ups. Und ich möchte so viel Schmuck tragen, wie meine Arme und mein Hals imstande sind!

STANDARD: Sie sind ein Vorbild für viele junge Frauen. Was wollen Sie ihnen mit auf den Weg geben?

McMillan: Obwohl es abgedroschen klingt: Das Leben ist kurz! Seid authentisch. Kleidet euch, wie ihr wollt. Esst, was ihr wollt. Seid kreativ. Redet mit unterschiedlichen Menschen. Hört zu, wenn diese von ihren Erfahrungen sprechen. Geht mit wachem Geist durch die Welt. Aber genießt vor allem das Leben. (Cordula Reyer, RONDO, 6.8.2021)