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So wurde in London am 19. Juli der "Freedom Day" gefeiert, der fast alle Corona-Beschränkungen aufhob. Fachleute befürchten, dass die britischen Infektionszahlen weiter stark steigen könnten. Doch das Gegenteil passierte.

AP / Alberto Pezzali

In Österreich steigen die gemeldeten Sars-CoV-2-Infektionen seit Anfang Juli langsam, aber beständig an. Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 37. Ähnlich ist die Entwicklung beispielsweise im benachbarten Italien. Andere europäische Länder weisen hingegen ganz andere Verlaufskurven auf: In Großbritannien etwa steuerte die Zahl der Neuinfektionen Mitte Juli auf ein neues Rekordniveau zu, mit mehr als 50.000 Infektionen täglich und einer Sieben-Tage-Inzidenz von rund 400.

Der renommierte Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College London warnte deshalb am 18. Juli – einen Tag vor dem sogenannten "Freedom Day" – in einem BBC-Interview, Großbritannien könnte wegen der rasanten Ausbreitung der Delta-Variante "auf das Doppelte oder noch höher kommen" – also 100.000 Infektionen oder mehr.

Verblüffende Entwicklungen der Fallzahlen

Am Tag der Freiheit fielen tatsächlich zahlreiche Corona-Beschränkungen, darunter die Maskenpflicht, Abstandsregeln sowie Beschränkungen für große Events. Doch das Seltsame geschah: Prompt begannen die Zahlen überraschend wieder langsam zu sinken, statt weiter zu steigen. Aktuell sind die Zahlen zwar immer noch hoch und liegen immer noch bei rund 20.000 Neuinfektionen täglich. Aber der Trend weist zumindest in den vergangenen zwei Wochen tendenziell nach unten.

Vergleichbar war die Entwicklung in den Niederlanden, wo es nahezu synchron zu Großbritannien von über 10.000 neuen täglichen Fällen Mitte Juli auf aktuell rund 2.000 hinunterging– was im Übrigen die seit kurzem in Österreich geltende strengere Einreiseregelung für Flugpassagiere aus diesem Land schon wieder etwas alt aussehen lässt.

Zahlreiche offene Fragen

Vergleichbares war im April und Mai in Indien geschehen, wo die Delta-Variante vermutlich auch ihren Ursprung hat: Die Zahlen explodierten förmlich und erreichten Rekordwerte. Die Bilder von heillos überfüllten Spitälern gingen um die Welt. Doch erfreulicherweise sanken die Zahlen in Indien im Mai und Juli fast so schnell wieder, wie sie angestiegen waren.

Doch was steckt dahinter, dass sich die Kurven auch der Delta-Infektionszahlen in diesen Ländern so extrem und – selbst für die besten Experten – unberechenbar entwickelten? Ist die Delta-Variante womöglich doch nicht so schlimm wie befürchtet? Ist zumindest in den genannten Ländern gar ein Ende der Pandemie in Sicht?

Delta und Superspreader-Ereignisse

Fachleute haben verschiedene Hypothesen zum Rückgang, aber vor allem zwei zum Anstieg: die Delta-Variante und Superspreader-Ereignisse. Was die Infektiosität der Delta-Variante angeht, hat sich an der Experteneinschätzung wenig geändert. Die Virenlast dürfte rund tausendfach höher sein als beim Wildtyp, bei Geimpfen allerdings signifikant geringer, wie eine ganz neue britische Studie zeigt.

Die (eher theoretische) Basisreproduktionszahl wird bei Delta auf 6 geschätzt, was bedeutet, dass eine infizierte Person ohne jegliche Maßnahmen (also ohne Impfungen, Masken etc.) im Schnitt sechs andere ansteckt. Zum Vergleich: Das originale Virus aus Wuhan hatte noch einen ermittelten Wert von deutlich unter drei.

Dazu kommt, dass Superspreader-Ereignisse die Zahlen noch stärker nach oben treiben dürften, als man bisher annahm: In Indien wird wohl das größte hinduistische Fest Kumbh Mela wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Zahlen explodierten. In Großbritannien und einige europäischen Ländern war die Fußball-EM mit ihren mehr oder weniger vollen Stadien ein Treiber, der womöglich unterschätzt wurde. Ein Forscher schätzt gar, dass die EM in England den tatsächlichen Reproduktionsfaktor um 0,4 erhöht haben könnte.

Faktoren für den Rückgang

Warum aber gehen die Zahlen zumindest in den genannten Ländern wieder zurück? Da unterscheiden sich nun die Ansichten der Expertinnen und Experten. Ein Teil ist durch den Rückgang bei den Tests (in GB etwa 14 Prozent) erklärbar. Ansonsten werden verschiedene Hypothesen bemüht: vor allem die weiter wachsende Immunität durch Impfungen und überstandene Infektionen. So gibt es Schätzungen, dass mittlerweile 92 Prozent der britischen Bevölkerung Antikörper gegen Sars-CoV-2 besitzen.

Außerdem werden die geschlossenen Schulen als Faktoren genannt, und viele Menschen seien trotz Lockerung der Maßnahmen in Großbritannien weiterhin sehr vorsichtig. Zudem funktioniert dort die Corona-Kontakt-App: Allein in der letzten Juliwoche gab es 700.000 verschickte Benachrichtigungen.

Eric Topol (Scipps-Institut in La Jolla in Kalifornien), der einen der informativsten Corona-Twitterkanäle betreibt, argumentiert im Gespräch mit dem "New York Magazine", dass in einer Pandemie dann doch nicht alle Menschen infiziert werden, wie das auch schon bei der Spanischen Grippe 1918 bis 1920 der Fall gewesen sei: "Diese Pandemieerreger brennen sich durch eine Bevölkerung, aber sie lassen immer viele aus, die anfällig sind." Auch in dieser Frage sind sich die Fachleute uneins: Christian Drosten etwa zeigte sich überzeugt, dass bis auf die Geimpften alle einmal infiziert werden.

Weitere Infektionswellen?

Unter dem Strich wird einmal mehr klar, dass selbst 18 Monate nach Beginn der Pandemie Fallzahlprognosen nach wie vor extrem schwierig sind und Experten mitunter ziemlich schlecht ausschauen lassen. Und natürlich sieht es in anderen Ländern ganz anders aus: In den USA etwa steigen die Infektionszahlen weiterhin kontinuierlich stark an.

Ziemlich sicher ist man sich nur, dass die jüngsten Infektionswellen in Indien, Großbritannien oder den Niederlanden auch in diesen Ländern eher nicht die letzten waren. So etwa zweifelt der Immunologe Satyajit Rath vom Indian Institute of Science Education and Research in Pune im Nachrichtenmagazin "Spiegel" nicht daran, dass trotz einer vermuteten Seroprävalenz von 70 Prozent (das ist der Anteil der Personen, die bereits eine Infektion überstanden haben) eine nächste Welle kommen werde. Die Frage sei nur, wann.

Die Situation in Großbritannien oder den Niederlanden mag insbesondere aufgrund des Impffortschritts eine etwas andere sein – jedenfalls in Sachen Bedrohlichkeit hoher Infektionszahlen. Denn da gibt es eine erfreuliche Zahl zu vermelden, die auch für Österreich und den Herbst hoffen lässt, dass es doch nicht so schlimm kommen könnte: Aufgrund der Impfungen und des geringeren Alters der Infizierten beträgt die Zahl der Menschen, die nach einer Infektion starben, bei der nun abflauenden Welle nur mehr ein Fünfzehntel im Vergleich zum Winter. (Klaus Taschwer, 4.8.2021)