Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich in den vergangenen Wochen zunehmend verschärft. Laut EGMR soll die österreichische Regierung Abschiebungen daher noch einmal genau prüfen.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die für Dienstagabend geplante Abschiebung eines Afghanen nach Kabul vorläufig verhindert. Die Maßnahme hat zunächst nur für die betroffene Person selbst rechtliche Auswirkungen, dürfte aber zum Präzedenzfall werden.

Frage: Wie stoppte der EGMR die Abschiebung?

Antwort: Der Gerichtshof kam einem entsprechenden Antrag der betroffenen Person nach und erließ eine "interim measure" – also eine vorläufige Maßnahme gegen Österreich. Diese gilt vorerst bis 31. August. Rechtsgrundlage ist Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR.

Frage: Ist Österreich an diese Entscheidung gebunden?

Antwort: Derartige Verfügungen sind laut ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtend. Eine Abschiebung bis 31. August wäre laut EGMR ein Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (EMRK).

Frage: Wie geht es nun weiter?

Antwort: Bis 24. August muss die österreichische Regierung mehrere Fragen des Gerichtshofs beantworten. Die Straßburger Richter wollen etwa wissen, wie Österreich die Zurückweisung des Betroffenen durchführen will, obwohl die afghanische Regierung angekündigt hat, Abschiebungen von 8. Juli bis 8. Oktober nicht zu akzeptieren. Die "neuen Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan" seit Anfang Juli wurden "offensichtlich" in den Entscheidungen der österreichischen Behörden nicht berücksichtigt. Auch Finnland, Schweden und Norwegen haben Abschiebungen in das Land bis auf Weiteres gestoppt. Österreich solle daher noch einmal genauer prüfen, ob ein Verstoß gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliegt.

Frage: Worum geht es in Artikel 3?

Antwort: Die Bestimmung verbietet Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen. Das wirft man Österreich nicht direkt vor. Allerdings untersagt das aus Artikel 3 abgeleitete "Refoulement-Verbot" auch Abschiebungen in Länder, in denen Folter oder unmenschliche Behandlung drohen.

Frage: Was passiert nach Ende des vorläufigen Abschiebestopps?

Antwort: Je nachdem, welche Stellungnahme Österreich gegenüber dem EGMR abgibt und wie sich die Sicherheitslage in Afghanistan entwickelt, kann der Gerichtshof den Abschiebestopp über den 31. August hinaus verlängern. Entweder befristet oder bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Beschwerde der betroffenen Person.

Frage: Wie lange wird es bis zu einer endgültigen Entscheidung dauern?

Antwort: Das ist leider schwer vorauszusagen. Verfahren am EGMR dauern für gewöhnlich lange. Der Gerichtshof hat das Verfahren allerdings als "prioritär" eingestuft.

Frage: Wie reagierte das Innenministerium?

Antwort: Das Ministerium hat angekündigt, alle geplanten Abschiebungen zu evaluieren, betonte allerdings, dass die einstweilige Verfügung kein "pauschales Verbot" von Abschiebungen nach Afghanistan darstelle.

Frage: Ist die Entscheidung für andere Abschiebungen dennoch relevant?

Antwort: Die Maßnahme des EGMR betrifft zunächst nur den Antragsteller selbst. Die Fragen, die der EGMR an die Republik richtet, deuten aber darauf hin, dass es den Straßburger Richtern um die allgemeine Situation in Afghanistan geht. Der Gerichtshof spricht von der "neuen Sicherheitslage in Afghanistan", ohne etwa eine bestimmte Zielregion hervorzuheben. "Wenn der EGMR deutlich macht, dass es sich um ein allgemeines Problem handelt, muss man damit rechnen, dass auch die nächsten geplanten Abschiebungen vorläufig verhindert werden können", sagt der Verfassungsjurist Heinz Mayer zum STANDARD.

Anwalt Clemens Lahner, der die Vertretung der betroffenen Person übernehmen wird, sieht das naturgemäß ähnlich: Jeder Mensch in einer vergleichbaren Situation könne nun ebenfalls eine vorläufige Maßnahme beantragen. "Österreich riskiert in jedem Fall einer Abschiebung nach Afghanistan trotz notorisch drohender Lebensgefahr eine Verurteilung durch den EGMR", sagt Lahner. (Jakob Pflügl, 4.8.2021)