Karl Stoss: "Wenn der Sport staatlich gesteuert wird, muss es natürlich Konsequenzen geben."

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STANDARD: Sind Sie als Mitglied der IOC-Disziplinarkommission mit Belarus befasst?

Stoss: Das bin ich nicht. Die Kommission hat insgesamt 15 Mitglieder. Zum Vorsitzenden, dem Schweizer Denis Oswald, kommen bei jeder Angelegenheit zwei Mitglieder dazu, aktuell bin ich nicht dabei.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Causa Kristina Timanowskaja?

Stoss: Man muss das zweidimensional sehen. Zum einen gibt es eine sportliche Ebene. Das IOC kann nicht bestimmen, wer für ein Land an den Start geht. Das ist eine nationale Angelegenheit. Zum anderen ist das eine politische Causa. Wenn hier Drohungen ausgesprochen wurden, muss darauf natürlich reagiert werden.

STANDARD: Der Diktator Alexander Lukaschenko ist seit 1994 Staatspräsident. Seit 1997 steht er auch dem belarussischen olympischen Komitee vor. Erst Ende 2020 hat ihn das IOC abgesetzt. War das nicht viel zu spät?

Stoss: Aufgrund der politischen Entwicklungen hat man gesehen, dass so eine Person keine Rolle mehr spielen darf im Sport. Wenn der Sport staatlich gesteuert wird, muss es natürlich Konsequenzen geben, wie es sie ja auch in anderen Fällen schon gab. Dann muss das nationale olympische Komitee gesperrt werden. Die Athletinnen und Athleten könnten unter neutraler Flagge antreten. Man muss aufpassen, dass sich Sanktionen nicht gegen die Sportlerinnen und Sportler richten.

STANDARD: Mit Verlaub, Lukaschenko war gut 23 Jahre lang Präsident des Landes und des olympischen Komitees in Personalunion.

Stoss: Darauf hatte niemand einen Einfluss. Es gibt Länder, in denen man nur einmal, und andere Länder, in denen man unendlich oft wiedergewählt werden kann.

STANDARD: Eine IOC-Prämisse lautet, dass sich die Politik nicht in den Sport einmischen darf. Wenn der Staatspräsident gleichzeitig Sportpräsident ist, ist diese Einmischung doch schon von vornherein gegeben.

Stoss: Ja, da gebe ich Ihnen völlig recht. Da kommt es zwangläufig zu Einmischungen. Ich wäre da auch für eine ganz klare Trennung.

STANDARD: Man stelle sich vor, Bundeskanzler Sebastian Kurz wäre gleichzeitig Präsident des ÖOC.

Stoss: Oder Werner Kogler, der Sportminister. Beides würde man nicht gutheißen.

STANDARD: Lukaschenko ist nicht erst seit den Wahlen im August 2020 ein Diktator, der brutal gegen die Opposition und auch gegen friedliche Demonstranten vorgeht. Zuletzt wollte er seinen Sohn Viktor als Präsidenten des olympischen Komitees einsetzen. Noch einmal die Frage: Hätte ihm das IOC nicht viel früher Grenzen setzen müssen, damit er sich nicht über den Sport profilieren kann?

Stoss: Hätte, hätte, könnte, könnte. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Vielleicht sollte man sich jetzt eine Änderung im Bezug auf die Olympische Charta überlegen und vorschreiben, dass es zu Ämtertrennungen kommt und nicht zu einer Kumulierung. Ob er oder sein Sohn Präsident ist, ist natürlich g'hupft wie g'jodelt.

STANDARD: Wie wird es mit Kristina Timanowskaja weitergehen, was glauben Sie, was hoffen Sie?

Stoss: Ich hoffe, sie und ihre Familie sind bald in Sicherheit. Ich hoffe, dass sie in einem sicheren Land Fuß fassen und ihre Karriere fortsetzen kann. Und ich hoffe, dass dieser Fall zum Anlass genommen wird, nach Lösungen zu suchen. (Fritz Neumann, 4.8.2021)

DER STANDARD