Archaische Rituale in Form von spektakulären Tanzszenen, für die Wim Vandekeybus bekannt ist.

Foto: Danny Willems

Was ist da passiert? Warum mussten sie flüchten? Eine Gruppe junger Leute hat sich tief in einen Wald zurückgezogen, durch den eine so gut wie unbefahrene Straße führt. Wie diese Menschen dort mit sich und den ungewohnten Lebensbedingungen zurechtkommen, davon handelt Traces, das neue Tanzstück des belgischen Choreografie-Stars Wim Vandekeybus. Es ist noch bis Donnerstag bei Impulstanz im Volkstheater zu sehen.

Der Wald ist eine Herausforderung für die Menschen, denn sie teilen sich diesen Lebensraum mit Bären. Dass es noch eine Welt außerhalb gibt, beweist nicht nur die Straße, sondern auch ein unheimlicher Vorfall gleich zu Beginn: Von oben rast ein Flugobjekt herab, kollidiert mit einer Frau und rattert wieder davon. Ein mysteriöser Vorfall, der sich nicht wiederholen wird.

Fatale Hybris

Ebenfalls rätselhaft bleibt eine weibliche Figur, die offenbar eine besondere Verbindung zu den Bären hat. Dieser Charakter – getanzt von der brillanten Maria Kolegova – ist außerdem besonders kraftvoll, was den durchgeknallten Anführer der Waldbewohner stört. Also fällt er einen Baum, um die vermeintliche Konkurrenz zu erschlagen.

Auch sonst ist nicht viel in Ordnung mit der verlassenen und bedrohten kleinen Gemeinschaft. Sie unterwirft sich ihrem Herrscher, weil der sie durch seine Gewaltbereitschaft einschüchtert. Die Gruppe kompensiert ihre Verwirrung durch Verspieltheit und sucht Sicherheit in archaischen Ritualen. Vor allem diese führen zu ausgedehnten Tanzszenen, auf die im Auditorium gewartet wird.

Der 58-jährige Choreograf Vandekeybus ist vor allem für seinen besonders spektakulären Tanzstil berühmt geworden, weniger als genialer Stückeproduzent. Das sieht man auch Traces an. Das Stück hat zwar kein dramaturgisches Problem, es wirft aber auch kein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur oder auf die vertrackten Beziehungen von Individuen untereinander.

Moderne als Rückschritt

Unterstrichen wird allerdings, dass die Moderne einen Rückschritt hinsichtlich unserer Integriertheit in den Lebensraum Erde gebracht hat. Dabei vermutet Traces die Ursache dafür weniger in der Unzulänglichkeit des Körpers als in einer fundamentalen Geistesschwäche, die vor allem hochtechnologisierte Zivilisationen zu ihrer fatalen Hybris geführt hat.

Aufgrund seiner Eindimensionalität ist der technische Erfindungsreichtum nun nichts weiter als ein Vernichtungsprogramm mit unbestreitbarem Unterhaltungswert.

In Traces stellt sich heraus, dass eine kollektive Weisheit auch mit dem – hier sichtlich unfreiwilligen – Rückzug in die Tiefen eines Waldes nicht von den Bäumen fällt. Die Spiele der Verlorenen laufen darauf hinaus, dass beispielsweise nach einem ausgiebigen Ritual die bestehende Straße weggewischt wird. Aber der großgewachsene Gruppenführer markiert schnell eine neue, als wäre das ein Hilfsmittel zur Rückkehr in die alte Normalität.

Natur und Mensch

Nur konsequent also, dass das Stück für das gegenüber der Wirklichkeit blinde Grüppchen tragisch ausgeht. Die von den Bären symbolisierte Natur schlägt zurück. Dagegen hilft auch kein So-tun-als-ob – etwa wenn eine der Waldbewohnerinnen sich mit den Tieren so sehr verwandt fühlt, dass sie sich einbildet, ein Bärchen geboren zu haben. Doch es ist leider nur ein Teddy. Ein totes Spielzeug.

Diese Szene stellt eines der berührendsten Motive in dem Stück dar: den missglückten Versuch, eine "Verwandtschaft" zwischen Natur und Mensch herzustellen, während der Machthaber alles dafür tut, um diese Verbindung zu verhindern. Vandekeybus schafft es, für ein ohne grundsätzlich anderes Denken und Handeln nicht mehr lösbares Problem eine künstlerische Form zu finden, die gerade noch genügend Assoziationsmöglichkeiten bietet, um nicht platt zu wirken. Der große Applaus bei der Wien-Premiere war berechtigt. (Helmut Ploebst, 4.8.2021)