Autor, Läufer und Neo-Wiener Matthias Politycki. Hat er schon eine erste Spracherrungenschaft aus dem Österreichischen vorzuweisen? "Das geht sich nicht aus" will er "gewiss bald in einem Text so schreiben".

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Seine Stammlaufstrecke hat der passionierte Läufer natürlich längst gefunden. Aber nicht nur die. Einen Gutteil von Wien hat der Autor Matthias Politycki (66) schon durchlaufen. Er nimmt dann die U-Bahn oder Straßenbahn bis zur Endstation und läuft etwa von Schwechat nach Hause. So war er schon am Friedhof der Namenlosen und am doch "nicht so kleinen" Hafen. In Ottakring geht er schwimmen und hält auf dem Rückweg bei seinem Lieblingsimbiss am Brunnenmarkt. Er hat auch schon ein Stammcafé, einen Stammschanigarten, eine Liste mit Heurigen.

Man kann wohl sagen, er hat sich eingelebt. Seit dreieinhalb Monaten ist Wien "Arbeitsmittelpunkt" Polityckis. Die Hälfte des Hausstandes befindet sich nun hier: einer der beiden Schreibtische, die Hälfte der Kleidung, der Bücher. "Da kann man natürlich nicht einfach jedes zweite mitnehmen, ich habe nach Gebieten und Gruppen sortiert." Nach Deutschland fährt er nur selten für Auftritte. Seine Frau ist in Hamburg geblieben, wo der geborene Karlsruher nach vielen Jahren in München nun 25 Jahre gelebt hat, muss meist ihn besuchen. Er meint es also ernst.

Zunehmend fassungslos

Aber warum? Weil ihm "Genderkorrektheit" und "Wokeness" in Deutschland zu viel geworden sind. In einer Erklärung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sah er Mitte Juli angesichts dessen die "Dekonstruktion unserer Gesellschaft" aufziehen, ortete eine "Pervertierung linken Denkens". "Wenn nicht mehr jeder jeden Text schreiben darf, wird auch bald nicht mehr jeder jeden Text lesen oder hören dürfen."

Nicht aus Frust hat er Deutschland aber verlassen, das ist ihm im Wiener Burggarten wichtig zu betonen, sondern aus "wachsender Fassungslosigkeit". Er sei auch nicht geflohen, sondern nur ausgewichen.

Politycki ist ein sprachverliebter Autor, der sich auch in seinem zuletzt erschienenen Roman Das kann uns keiner nehmen (2020) noch der neuen Rechtschreibung verweigert. Zugleich mischt er gerne in Debatten mit (Haltung finden, 2019). Normalerweise ist er die Hälfte des Jahres unterwegs. Er habe dadurch "immer genug anderes erlebt, um auch mal anders zu denken als zu Hause". Corona hat aber zum Lagerkoller geführt. Als er merkte, dass er nicht mehr schreiben kann, legte er letztes Jahr schon drei Monate in Wien ein. "Es tat mir hervorragend! Hier hatte ich wieder Lust zu schreiben. Zurück in Deutschland hat mich das Klima wieder bedrückt. So ist der Gedanke zum Umzug gereift."

Paartherapeuten rieten während der Ausnahmesituation Corona allgemein von großen Entscheidungen ab. Politycki bereut aber nichts.

Wien ist anders

Was Wien so anders macht? Im Süden gehe es "wurschteliger" zu, sagt Politycki. "Das meine ich positiv! Hier scheint mir der Umgang miteinander entspannter. Leben und leben lassen, dieses Motto kommt im Norden manchmal ein bisschen zu kurz. In Wien lebe ich in derselben links-grünen Blase wie in Hamburg, habe aber bisher die Erfahrung gemacht, dass man hier viel eher eine andere Meinung am Tisch gelten lässt. Den Vormarsch des Genderdeutsch sehe ich in Wien zwar ebenfalls, doch wie alles andere wird er viel weniger dogmatisch betrieben. Die Korrektheit der Deutschen schlägt mitunter in Regulierungswut um. Da sehe ich große Bereitschaft zur Mitläuferschaft. Das untergründig Anarchische, wie ich es in Wien stark vermute, ist da ein notwendiges Korrektiv."

Er sehe aber auch Österreich schon nicht mehr so blauäugig, muss er einräumen. Jüngst hat er auf Ö1 einen Beitrag über "Migrantinnen" auf Lampedusa gehört. "Das ist, ehrlich gesagt, kurz vor Fake-News, denn es sind ja zu 90 Prozent Männer, die dort ankommen. Das führt zu Missverständnissen. Aus der diversen Vielfalt, die das generische Maskulinum bietet, ist durch das Gendern Zwiefalt geworden. Verkürzt man im Sinn woker Sichtbarmachung weiter, zeigt sich Einfalt."

"Schatz einer Kulturnation wird redigiert"

"Würde ich gendern, wären meine Texte zwangsläufig mit einer weltanschaulichen Agenda versehen, die ich nicht vertrete – und die gegenteilige Agenda erst recht nicht." Es bleibe zudem ja nicht beim Gendern. Er wisse, dass in manchen Verlagen die Backlist auf entsprechende Stellen gesichtet werde. Die könne man in künftigen Ausgaben umformulieren oder weglassen. "Der Schatz einer Kulturnation wird auf die Weise, nennen wir es mal so, redigiert. Wird in Debatten mal einer angeprangert, kann ich das verstehen. Geht Cancel-Culture aber still und systematisch vor, wird es wirklich gefährlich."

Kann er den gesellschaftspolitischen Ansatz beim Gendern gar nicht nachvollziehen? Doch, schon. "Wir haben es damals halt nicht ,Sichtbarmachung von Frauen‘ genannt, bei uns hieß das ,Frauenemanzipation‘, und es war für uns eine Selbstverständlichkeit." In manchen Punkten sei er weltanschaulich also gar nicht weit weg, "in der Art des Umsetzens auf sprachlicher Ebene aber schon".

Hat diese implizite Emanzipation aber nicht eher mäßig funktioniert? Gerade wurde errechnet, dass Frauen in Österreich um 42 Prozent weniger Pension bekommen als Männer. Ist seine Abwehr nicht die Position des arrivierten Privilegierten?

Experimente auf stabiler Basis

"Ich komme von der experimentellen Literatur. Ich habe damals in Wien angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben, während meine Eltern glaubten, ich studiere. Man kann in der Sprache einiges ausprobieren. Aber Alltagssprache ist kein Spiel, hier muss Neutralität gewahrt bleiben. Erst dann lassen sich kontroverse Inhalte auch sinnvoll diskutieren. Literatur, wie ich sie verstehe, will in ihren besten Momenten Musik werden! Gendern will das Gegenteil, es bläht Satzstrukturen unnötig auf, zwingt zu Wörtern ohne historische Patina."

Heute würden "Schaumpolster" um Aussagen gelegt, das "abzuklopfen" sei "Aufgabe" von Autoren.

Das Treffen geht zu Ende. Hat Wien seine Sprache bereits verändert? Noch nicht. "Aber als ich studiert habe, habe ich Austriazismen gesammelt. Ich sammle ständig Idiome und Namen, etwa auf Friedhöfen, Klingelschildern. Wien hat da extrem viel zu bieten." Die Hauptfigur seines nächsten Romans will Politycki daher nach dem befreundeten Maler Josef Trattner nennen. Er steckt in der Arbeit. "Im Norden dauert es lange, bis man als einer von ihnen angenommen wird", sagt Politycki. "In Hamburg bin ich bis heute der Münchner Autor. Ich hoffe, dass man hier irgendwann mal ein Teil der Wiener Literatur wird." (Michael Wurmitzer, 5.8.2021)