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Die Kulturwissenschafterin Rachel Dolezal war eine der Protagonist*innen, die das Thema "transracial" auf die Agenda hoben.

Foto: Reuters / STEPHANIE KEITH

Die Social-Media-Persönlichkeit Oli London – geboren in Großbritannien – will sich nun als koreanisch identifizieren. 18 Operationen habe London nach eigenen Angaben in den letzten Jahren durchführen lassen, um dem Mitglied Jimin der K-Pop-Band BTS optisch näher zu kommen. Seit dem letzten Eingriff, einer Veränderung der Augenform, sei die Transformation abgeschlossen. Die Nachricht über Londons koreanische Identitätsfindung sorgte weltweit für Kontroversen.

Dass Menschen sich an jene Gruppen anpassen, die das Sagen haben, die keine Diskriminierung erleben, das kann man leicht nachvollziehen. Man will dazugehören zu jenen, die sichtbar sind, die Macht haben. Aber warum wollen Menschen nicht weiß sein? Warum wollen sie sogar zu jenen werden, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer äußerlicher Merkmale diskriminiert werden? Gibt es inzwischen Vorteile, zu einer solchen Gruppe zu gehören – immerhin wird das von Kritiker*innen von Quoten und positiver Diskriminierung ja oft behauptet. Oder steckt der Anspruch dahinter, so diskriminierte Gruppen unterstützen zu wollen? Kann das klappen? Und vor allem: Kann man sich einfach jede Identität zulegen?

In den vergangenen Jahren sorgten ähnliche Fälle im akademischen Milieu der USA für Aufsehen, etwa Rachel Dolezal, Jessica Krug oder Andrea Smith, die sich als schwarz oder indigen ausgaben, bis man ihnen auf die Schliche kam. In den USA gibt es auch immer wieder Fälle weißer Menschen, die sich auf Basis der dort weit verbreiteten, aber wissenschaftlich fragwürdigen DNA-Tests als People of Color (PoC) ausgaben – der prominenteste wohl jener der demokratischen Senatorin Elizabeth Warren.

Vergleich mit transgender

Oli London setzte allerdings auf ein öffentliches Outing via Social Media und erklärte, sich "im falschen Körper" zu befinden. Die Social Media-Persönlichkeit bezeichnete sich als "Erfinder" des Konzepts "transracial" und zeigte sich überzeugt, "Wenn man transgender sein kann, kann man auch transracial sein." Hier gibt es aber Widerspruch. "Gender wird in jeder Generation neu verhandelt", sagte die Kulturwissenschafterin und Journalistin Mithu Sanyal im Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Das bedeutet: Frauen können natürlich auch Söhne zur Welt bringen, Race werde hingegen transgenerativ, also von Eltern zu Kindern, vererbt.

Die Rassismusforscherin Anna-Esther Younes spricht in diesem Zusammenhang von einer "Anknüpfung an einen gesellschaftlich schon akzeptierten Diskurs": Der Diskurs über Trans-Identitäten sei derzeit der einzige, der es möglich mache, Londons "Ansichten" im sozialen Raum zu rechtfertigen, sagt Younes im Gespräch mit dem STANDARD. Oli London schreibe sich mit deren Verwandlung in ein koreanisches Narrativ ein, um persönliche Probleme sichtbar und lösbar zu machen und um dafür im letzten Schritt Legitimation zu erhalten.

Younes sieht hier Parallelen zu dem Fall Binjamin Wilkomirski, der in den 90er-Jahren seine eigene jüdische Identität inklusive Internierung im Konzentrationslager erfand. Eigentlich war der Schweizer ein Waisenkind aus der Arbeiterklasse – aber "es gab damals keine Legitimation, um über diesen Unmut, diesen Missstand zu reden", sagt Younes. Im Gegensatz zum Diskurs über Antisemitismus und Holocaust – den Wilkomirski für sich beanspruchte, um öffentlich einen Opferstatus vertreten zu können, der im diskursiven Raum schon anerkannt war.

Ökonomie und Kapital

Younes beobachtet in diesem Zusammenhang einen "Backlash": In einer Gesellschaft, in der über Rassismus als strukturelles Problem gesprochen wird, würden individuelle Subjekte trotzdem an ihren Privilegien festhalten bzw. sie einfordern. Andrea Smith und Rachel Dolezal hätten ihre Lehraufträge wahrscheinlich nicht bekommen, ohne sich als PoC auszugeben, glaubt Younes. "Sie sehen, dass es hier eine Ökonomie gibt, die versucht, historisch gewachsene Ungerechtigkeit auszugleichen und auch mehr Frauen, mehr LGBTQI*, mehr People of Color einzustellen um deren Expertise in die Lehre und Forschung mit einfließen zu lassen." Der Wettbewerb um begehrte Stellen an Unis und im öffentlichen Raum sei damit aber nicht ausgehebelt. Eine Antwort darauf ist die individuelle Logik eines Subjekts, das seinen Platz nun beansprucht, indem es die Identität übernimmt, die gerade auf dem Markt gefragt ist: "Ich fühle mich schwarz, ich fühle mich indigen, also bin ich es."

Die Haltung, dass alles machbar ist, wenn man nur will, und die ständige Arbeit am Selbst in einer stark auf Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft stehen heute hoch im Kurs. Vor diesem Hintergrund ortet Younes vor allem bei Oli London starke neoliberale Züge: das Ziel, Kapital aus der eigenen "Identität" zu schlagen, da es als Social-Media-Persönlichkeit vor allem darum gehe, Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch Sanyal wies im SRF darauf hin, dass das Dasein als PoC als Trend in der Popkultur wahrgenommen und kapitalisiert wird – "und das funktioniert nur in eine Richtung". Ähnlich sieht das auch Younes: "Ein schwarzes Mädchen in Nigeria, das sich als weiß identifizieren würde, hätte diese Reichweite und Aufmerksamkeit nie" – und könnte daraus natürlich auch kein Kapital schlagen. Das bestätige auch das prominenteste Beispiel: Der eigentlich schwarze Popstar Michael Jackson wurde – auch wegen der Weißfleckenkrankheit Vitiligo – mit dem Alter immer weißer. Erfolgreicher machte ihn das nicht, eher zu einem "Running Gag", sagt Younes.

In ihrem Roman "Identitti" befasst sich die Autorin Sanyal ebenfalls mit Identität und dem Phänomen "transracial", konkret geht es um eine Professorin, die die Welt darüber täuscht, indische Wurzeln zu haben. Sanyal sieht vor allem in den wenigen Vorbildern ein Problem: Wenn es im Bildungssystem mehr einflussreiche People of Color gäbe, dann würde der Betrug nicht so schwer wiegen.

Trauma nicht durchgemacht

Die Unterrepräsentation von PoCs in diesen Positionen hängt aber womöglich genau mit ihrer Geschichte, Herkunft, Race zusammen: Aufgrund von Traumata fällt ihnen der Gang in die Öffentlichkeit schwer – denn damit ist stets verbunden, womöglich nicht gehört, abgelehnt oder zurückgewiesen zu werden. "Dolezal, Smith oder Wilkomirski haben aus einer weißen Perspektive das gemacht, was Betroffene selbst oft nicht konnten", sagt Younes. "Und dann bekommen sie den ganzen Applaus und die Positionen." Gleichzeitig haben sie aber auch das Thema und die Geschichten sichtbarer gemacht – auch wenn das unter falschen Vorzeichen geschehen ist. Auch Oli London versucht das.

London teilte auf Instagram Bilder zu den Social-Media-Kampagnen #IamnotaVirus und #StopAsianHate, die den gestiegenen Rassismus gegen als asiatisch gelesene Personen thematisieren – Personen, die anhand ihres Aussehens dem asiatischen Raum zugeordnet werden, auch wenn sie schon Jahrzehnte in anderen Ländern leben oder dort geboren sind. Da sich London außerdem nicht nur als koreanische, sondern auch als nichtbinäre Person sieht – also weder als Mann noch als Frau –, inszeniert sich der Influencer als Sprachrohr der koreanischen LGBTQI-Bewegung.

Warum ist das ein Problem? Personen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, sich aber für andere starkmachen und sich solidarisieren, leisten grundsätzlich einen wichtigen Beitrag. Im Fall von London, Dolezal oder Smith geht es jedoch nicht um Unterstützung durch Verbündete ("Allyship"), sondern um die Aneignung des Diskurses – womit einhergeht, dass Privilegierte Mechanismen für sich in Anspruch nehmen, die eigentlich weniger Privilegierten helfen sollen.

London spricht davon, wie sehr er die koreanische Kultur schätze, versucht also "cultural appreciation" zu vermitteln, die Wertschätzung einer Kultur. "Was aber eigentlich passiert, ist eine Aufwertung der eigenen Stimme und Persönlichkeit: Plötzlich werden sie von allen gesehen und gehört und dafür bewundert, wer sie sind", sagt Younes. Die Gratwanderung zwischen tatsächlicher Wertschätzung und dem, sich eine andere Kultur anzueignen oder mal eben überzustreifen ("cultural appropriation"), sei schwierig, gibt Younes zu. "Man müsste sich zwar alles anlesen, es verstehen, und trotzdem den Schritt zurückgehen und nicht für People of Color sprechen." Wer wirklich Ally im Kampf gegen Rassismus sein möchte, müsste Betroffene dabei unterstützen, gesehen und gehört zu werden – ohne sich selbst ins Zentrum zu stellen. (Anika Dang, Noura Maan, 16.8.2021)