Suche nach der Muttersprache – auch für den Sohn: Anna Kim.

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Ich hatte eine Einleitung geplant, mit biografischem Abriss, Geburtsdatum und -ort, doch all das tut nichts zur Sache. Das heißt, der Geburtsort ist wichtig, die Geburtsorte der vier Protagonisten: Meine Mutter ist in einem Ort namens Nonsan in Südkorea geboren, in ihrer Kindheit und Jugend war es ein Dorf, heute ist es eine Hunderttausend-Einwohner-Stadt.

Mein zweieinhalb Jahre alter Sohn Francis wurde in Wien geboren, im Allgemeinen Krankenhaus. Sein Vater EJ ist in einer US-amerikanischen Kleinstadt zur Welt gekommen, ich in einer südkoreanischen Großstadt. In unserer Familie werden drei Erst- bzw. Muttersprachen benutzt: Deutsch, Englisch und Koreanisch.

Ich erinnere mich nicht, während der Schwangerschaft oder direkt nach der Geburt Francis angesprochen zu haben. Tatsächlich brachten mich die Geräusche, die er als Neugeborener von sich gab, zum Verstummen; mehr als ein Mal verspürte ich den Impuls, seine Kinderärztin aufzusuchen, vielleicht hatte er Schmerzen? Anders konnte ich mir diese Ur-Laute nicht erklären.

EJ beruhigte mich – in dieser Zeit war er der Flugbegleiter, den ich ängstlich beobachtete, wenn das Flugzeug in eine Turbulenz geriet –, und mit der Zeit lernte ich es, diese Laute als "Sprechen" zu akzeptieren. Ich antwortete in kurzen Sätzen, die hauptsächlich englisch waren, da ich noch nicht zwischen ihm und seinem Vater unterschied: Die meiste Zeit sprach ich über unseren Sohn, und als Gesprächsgegenstand war er das Postskriptum der Gespräche, die ich mit EJ führte.

Sprache der Kindheit

Meine ersten ausschließlich an Francis gerichteten Worte gab ich in einem Park in Berlin von mir, drei Monate nach seiner Geburt. Eine Frau überholte mich, auch sie schob einen Kinderwagen, und mir fiel auf, wie rundlich ihr Baby war, pummelig und pausbäckig. Francis war bei der Geburt sehr klein gewesen, gerade einmal 2,4 Kilogramm schwer, der besorgte Gesichtsausdruck des Arztes hatte sich mir eingeprägt, vor allem sein: "Schauen wir mal." Während der Schwangerschaft hatte ich weder geraucht noch Drogen genommen, einen offensichtlichen Grund für sein Untergewicht gab es nicht.

Möglicherweise war die Placenta praevia, die ich hatte, dafür verantwortlich – oder aber eine Wachstumsstörung. Das Wort "Wachstumsstörung" blieb in meinem Kopf hängen; gemeinsam mit dem ärztlichen "Schauen wir mal" verwandelte sich meine kleine in eine große Sorge.

Während unseres Morgenspaziergangs überkam mich das Bedürfnis, meinem Kleinen, der mir im großen Kinderwagen noch kleiner erschien, zu versichern, dass ich ihn niemals im Stich lassen würde. Dieses Gelöbnis kam mir auf Deutsch über die Lippen, aber ich erinnere mich, dass ich damit wartete, bis die andere Mutter außer Reichweite war; ich erinnere mich, dass ich das Versprechen flüsterte – dass ich mich zu Francis hinunterbeugte und ihm die Worte zuwisperte.

Von diesem Tag an sprach ich öfter mit ihm, aus dem "öfter" wurde ein "oft", aus dem "oft" ein "täglich", und meistens benutzte ich Deutsch, selten Englisch, zwei, drei Male griff ich auf meine vermeintliche Muttersprache zurück. Koreanisch ist für mich die Sprache meiner Kleinkindheit, dementsprechend klein ist mein Vokabular und auf die Welt der Gegenstände beschränkt. Gefühle, seelische Befindlichkeiten oder philosophische Spekulationen kann ich in ihr nicht ausdrücken.

Aus dem Grund und wegen meines beschränkten Vokabulars muss ich meine koreanischen Sätze um deutsche Wörter ergänzen, dieses Kauderwelsch ist mir allerdings zuwider, es ist weder eine klanglich interessante noch schöne Mischform, sondern ein grober Flickenteppich; eher Frankensteins Monster als Pygmalions Galatea. Da ich mein Koreanisch als unterentwickelt und unvollständig empfinde, benutze ich es ungern, halte meinen Koreanisch-Radius klein.

Verwunderung und Spott

Mit meiner Mutter spreche ich außerhalb ihrer Wohnung im Flüsterton und zucke zusammen, wenn sie überlaut und überdeutlich antwortet. Dann sehe ich mich schnell um, da ich eine bestimmte Reaktion meiner Umgebung erwarte: Verwunderung oder Spott. Dies ist meinen Kindheitserfahrungen geschuldet, als ich meine "exotische Muttersprache" vorführen musste ("Sag mal was auf Koreanisch!") oder wegen ihr gehänselt wurde ("Tsching-tschang-tschong, alle Chinesen, die sind dumm").

Ich wandte mich von ihr ab; ich erinnere mich, mir geschworen zu haben, und dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen, Deutsch und nur Deutsch sprechen zu wollen. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals koreanische Gedanken gehabt zu haben, Selbstgespräche, sogar geträumt habe ich immer auf Deutsch.

Ganz selten liegt mir ein koreanisches Wort auf der Zunge, das ich für geeigneter, treffender halte als seinen deutschen Verwandten, dann benutze ich es bewusst. Davon abgesehen hat sich diese Sprache mit den Jahren in eine fremde Sprache verwandelt, in eine, die mir sogar ferner ist als Englisch. Dementsprechend kämpfe, diskutiere ich schon seit (mittlerweile) Jahrzehnten für mein Recht, Deutsch meine Muttersprache nennen zu dürfen, obwohl es nicht die Sprache meiner Mutter ist.

Über Nacht koreanischer geworden

Seit ich Mutter geworden bin, scheine ich jedoch gleichsam über Nacht koreanischer geworden zu sein. Nicht nur muss ich plötzlich überall Auskunft über meine ethnische und sprachliche Zugehörigkeit geben ("Welche Sprachen werden hauptsächlich, welche zusätzlich zu Hause gesprochen?"), auch erhalte ich meistens ungewollt Auskunft über die sprachliche Entwicklung meines Kindes, die angeblich langsamer sein wird, da Francis ja zweisprachig aufwächst.

Die Zweisprachigkeit wird vorausgesetzt, erstaunt, sogar verwirrt ist man erst, wenn ich erkläre, um welche zwei Sprachen es sich handelt, nämlich nicht um Koreanisch und Deutsch.

Die verdatterten Blicke, die ich mir einhandle, wenn ich mit Francis auf dem Spielplatz oder auf der Straße Deutsch spreche, entgehen mir (leider) ebenso wenig. Ich bemerke sie, weil sich bei mir eine gewisse Paranoia breitgemacht hat (das Wort "Migrationshintergrund" hat diese Wirkung bei exzessivem Gebrauch).

Auf dem Karussell

Aber wie um mich von diesem Verdacht zu erlösen, erhalte ich immer wieder Beweise dafür, dass ich mir nichts einbilde. Erst vor ein paar Tagen sprang ein höchstens sieben Jahre altes Mädchen auf das Karussell, auf dem Francis und ich spielten – er saß auf dem Gefährt, ich schob es an, ihm immer wieder zurufend, er brauche keine Angst zu haben, Mama sei ja da –, sah mir mit einem äußerst erwachsenen Lächeln ins Gesicht und fragte: "Und? Woher kommst du?" Ich entgegnete "Österreich" mit einem ebenso breiten Lächeln, weil ich sie süß fand, das Mädchen und die Vertrautheit, mit der sie, die Älteste auf dem Spielplatz, mich angesprochen hatte. Für meine Antwort erntete ich allerdings großes kindliches Staunen.

Der Verursacher dieser meiner "Muttersprachenkrise" ist jedoch mein Sohn. Seit ich aus nächster Nähe beobachten kann, wie ein Kleinkind das Sprechen erlernt, hat sich für mich die Bedeutung des Begriffs Muttersprache geändert. Bis vor eineinhalb Jahren lag für mich die Besonderheit dieser Sprache in ihrem Klang: dem Tonfall der Mutter – einer Mutter, die erklärt, einer Mutter, die Geschichten erzählt, einer Mutter, die, mit einem Lächeln in den Augen, schilt.

"Schließlich fand ich mich mit dem Gedanken ab, dass ich für uns eine Muttersprache erfinden muss": Anna Kim.
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Die Melodie dieser Sprache ist durchzogen von Zärtlichkeit, und Heimat sitzt in ihr. Obwohl meine Mutter auf Koreanisch schimpfte und erklärte (dozierte), las sie mir sehr viel vor, meine Kindheit bestand aus ausschließlich deutschsprachiger Literatur; es sind diese Bücher, in denen ich eine Heimat fand.

Dass ich die deutsche Sprache zur Muttersprache auserkoren habe, war für mich keine willkürliche oder zufällige Entscheidung, sondern eine natürliche, eine selbstverständliche; diese Stellung des Deutschen begann ich infrage zu stellen, als ich Francis dabei beobachtete, wie er das Sprechen erlernt.

Eine Kopie anfertigen

Unabdingbar für seinen Lernprozess ist die körperliche Nähe: Er klebt an mir. Sich an mir festhaltend oder an mich gekuschelt wiederholt er jedes Wort, das ich mehr als ein Mal sage. Selbst Wörter, die ich bloß ein Mal erwähne, spricht er nach. Meine Sprache ist sein Prototyp, auf dessen Basis er eine Kopie anfertigt. Seine Sprache ist ein Abdruck, ein Durchschlag meiner Sprache, und wie es sich für einen Durchschlag gehört, ist nicht jeder Buchstabe gut sichtbar, die Kopie blasser.

Die Fehlerquelle ist unerlässlich für die Individualisierung seiner Sprache. Um sich das Neue zu merken, wiederholt er das Gehörte viele Male. Seine Wiederholungen wiederum verleiten mich dazu, mich zu wiederholen. So geht es hin und her, bis das neue Wort in meinem Kopf seine Bedeutung verloren und in seinem eine Bedeutung erlangt hat.

Während ich ihn beobachtete, während ich mit ihm sprach und mein kleiner Papagei alles nachplapperte, was ich sagte, begann ich mich zu fragen, wie ich wohl Koreanisch gelernt hatte und, vor allem, wie ich diese Sprache verlieren konnte. Da sich die ersten deutschen Worte, die ich an Francis gerichtet hatte, steif angefühlt hatten, geradezu hölzern wie eine Fremdsprache, begab ich mich auf die Suche nach meiner Muttersprache, in der Hoffnung, eine Muttersprache für meinen Sohn zu finden.

Eine Muttersprache (er)finden

Ich versuchte sogar kurz, mit Francis Koreanisch zu sprechen; ich glaubte, dass das Koreanische vielleicht noch in den Untiefen meines Unbewussten existiert und ich es reaktivieren könnte. Er sah mich mit großen Augen an, dann sagte er: "U-Bahn." Und nach einer kurzen Pause: "Badner Bahn." (Er befindet sich gerade in einer Zug-Phase.)

Schließlich fand ich mich mit dem Gedanken ab, dass ich für uns eine Muttersprache (er)finden muss. Ich bastelte an meinem Deutsch, zog hier, klebte da etwas an. Ich war nicht zimperlich; diesmal ließ ich die Mischform, das Kauderwelsch, zu, es wurde zu einem Teil unserer Sprache. Ich veränderte auch meine Stimme, meinen Tonfall, er sollte den meines Sohnes (bis zu einem gewissen Grad) spiegeln; ich schraubte an der Klangfarbe herum, bis er die Zartheit erreicht hatte, die ich mir von einer Muttersprache erwarte. Ich passte mein Vokabular dieser Melodie an, passte mein Vokabular seiner Vorstellungskraft an.

In meiner sprachlichen Konfusion war ich nicht allein: Meine Mutter, die hinsichtlich ihrer Muttersprache nicht verwirrt ist, weiß noch heute nicht recht, in welcher Sprache sie mit ihrem Enkel kommunizieren soll. Seit ein paar Monaten, seit er halbe bis ganze Sätze ("Wo ist meine Mama?") spricht, hat sie sich für Deutsch entschieden, da es für sie feststeht, dass dies meine, also auch seine Muttersprache ist. (Ich wunderte mich, mit einer klitzekleinen Wehmut, wie einfach für sie diese Diagnose war; wie schwierig war es für sie während meiner Jugend gewesen, dies zu akzeptieren.) Seither führen sie und Francis Ein-Wort-Gespräche:

Francis (aus seinem Zimmer rennend): "Auto, Auto!"

Mutter (erschrocken): "Auto??"

Francis (mit Nachdruck): "Ja" (und als er ihre Verwirrung bemerkt, langsamer:) "Trans-por-ter."

Mutter: "Trans Porter, was ist?"

Deutsch als Verkehrssprache

Unlängst erklärte ich ihr, um sie aus dem Spinnennetz der deutschen Sprache zu befreien, sie könne mit Francis ruhig Koreanisch sprechen. Sie sah mich mit einem Blick an, den ich bis heute nicht deuten kann, und blieb bei Deutsch als Verkehrssprache. Oft versteht sie ihn nicht, dann schiebt sie die Schuld auf ihn und seine kindliche Aussprache.

Tatsächlich ist seine Aussprache ein Abbild meiner Aussprache; mein Deutsch versteht sie auch nicht. Allerdings lässt sie es sich nicht nehmen, mit mir auf Koreanisch zu kommunizieren. Francis hört mit und spricht die Wörter nach, unglücklicherweise meine mutierte Fassung, d. h. meine koreanische Antwort, nicht ihre koreanische Frage. (Er wird sich wohl auch einmal wie ein "Nordkoreaner" anhören wie ich, sollte er Koreanisch als Zweit- oder Drittsprache behalten.)

Sogar EJ musste ich vom Gebrauch der eigenen Muttersprache überzeugen, das Englische wollte ihm in der Gegenwart seines Sohnes nicht so recht über die Lippen kommen. Ich fragte ihn nach dem Grund, er überlegte lange und meinte endlich, er wisse eigentlich nicht, warum, und von diesem Tag an begann er, mit Francis mehr Englisch zu reden. Nach etlichen Ausflügen mit Papa hat sich Francis’ Wortschatz verändert, nun mischt sich das Englische stärker ein.

Wortkreationen

"Auch touched", sagt er, wenn er auf dem Weg von der U-Bahn-Station nach Hause sämtliche Gitterstäbe der Kellerfenster angreift. Oder wenn er mit den Fingern in der Nase herumstochert, heißt das "Booger suchen". "Another" ist ihm lieber als die deutsche Entsprechung, und "high five" konnte er geben, noch bevor er klatschen konnte.

Seine schönsten Wortkreationen sind jedoch im Deutschen beheimatet, "Trommelangst" etwa, erfunden, nachdem ich ihn ins Haus der Musik mitgenommen hatte, das ihm viel zu finster gewesen war. In der Hierarchie der Sprachen, Deutsch, Englisch und Koreanisch, ist es allerdings das Wienerische (zugegeben, keine Sprache, aber fast), das das Ranking anführt: "Popscherl" bringt ihn zum Kichern, und über "Wutzi" zerkugelt er sich.

Meine "Muttersprache" fühlt sich zunehmend natürlicher an, ich werde besser in ihr; sie hat sich endgültig aus dem Schneckenhaus gewagt. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich verstumme, wenn ich mich beobachtet fühle. Die überraschten Blicke, die uns zugeworfen werden, wenn wir sie verwenden, Francis und ich, bemerke ich nach wie vor. Dann lasse ich mich dazu hinreißen, sämtliche Wörter aufzusagen, die ich von Kasperl und Pezi gelernt habe, Krawutzi Kaputzi!

Eine kleine Sehnsucht bleibt aber, eine Wehmut, sie überkommt mich, wenn ich Eltern und Kinder in ihrer sprachlichen Eintracht beobachte, in einer sprachlichen Unkompliziertheit, Natürlichkeit, nein, Selbstverständlichkeit, die ich mir auch wünschen würde ... Aber spätestens dann, wenn ein bloß in eine Windel gehüllter Francis durch die Wohnung rast, während er aus vollem Hals "Sleeping nicht! Sleeping nicht!" kräht, bin ich getröstet. (Anna Kim, ALBUM, 8.8.2021)