Schreibt gerne über Amerika: Jonathan Lethem.

Foto: Adrian Cook

Backgammon ist ein eigenartiges Spiel. Man braucht Glück dabei, die Würfel fallen nun einmal, wie sie wollen. Man muss aber auch gut sein. Man braucht vielleicht nicht das Hirn eines Schachgenies, aber man muss wissen, was man tut. Mensch ärgere dich nicht ist jedenfalls nicht der richtige Vergleich. Go aber auch nicht. Poker vielleicht noch am ehesten.

Jonathan Lethem erzählt in Anatomie eines Spielers von einem Mann namens Alexander Bruno, der zu Beginn in Berlin zu einem Backgammon-Abend fährt. Er wurde dafür gebucht. Man kennt ihn weltweit als sehr guten Spieler, und reiche Menschen bezahlen ihn dafür, sich von ihm ausnehmen zu lassen.

Mit Bruno zu spielen, das hat etwas von Sadomaso auf einer höheren Ebene. Auf der Fähre, die ihn zu dem Haus seines Klienten bringt, trifft er auf eine junge Frau, mit der es zu einem kurzen Gespräch kommt. Bruno wird sie an diesem Abend noch einmal sehen, in einer überraschenden Rolle.

Das Nächste, was er dann weiß: Er ist im Krankenhaus und bekommt eine erschütternde Diagnose.

Das Wort Anatomie hat in diesem Buch verschiedene Bedeutungen. Die erste ist klassisch klinisch.

Lethem erzählt eine Krankengeschichte, die einem Mann widerfährt, der von seinem Spiel lebt. Bruno hat seit einiger Zeit einen Fleck im Auge, sein Gesichtsfeld ist gestört, und bald stellt sich heraus, dass es dafür einen mehr als faustgroßen Grund gibt, den man entweder unter seinem Gehirn oder hinter seinem Gesicht verorten kann. Gutartig oder bösartig, das spielt in diesem Fall keine Rolle. Bei Alexander Bruno droht der Kopf zu platzen.

Frankensteins Monster

Von Anatomie spricht man aber oft auch in einem erweiterten Sinn. Jonathan Lethem ist popkulturell einer der versiertesten Autoren aus Amerika, er kennt natürlich Otto Premingers Filmklassiker Anatomie eines Mordes oder Robert Burtons großes menschenkundliches Buch Anatomie der Melancholie.

In allen diesen Fällen sehen wir dabei zu, wie etwas auseinandergenommen wird und dann wieder zusammengesetzt. Und genau das ist es, was Jonathan Lethem mit Alexander Bruno macht: Er nimmt ihn auseinander und setzt ihn dann so wieder zusammen, dass jemand den Eindruck bekommt, Frankenstein und sein Monster wären zusammengestoppelt worden.

Das ist ein wenig drastisch ausgedrückt, aber der Roman hat in diesem Fall den Vorteil, dass er hinter Worten verbergen kann, was man sich beim Lesen dann doch konkret vorzustellen versucht: Wie sieht Bruno nach seiner Verwandlung aus? Kann er sich mit seinem "Narbengesicht" (auch das ein Filmtitel) noch im Spiegel ertragen?

Träume ausbeuten

Der wichtigste Teil des Romans spielt in Berkeley an der amerikanischen Westküste, in der Hochburg einer alten Gegenkultur, aus der Alexander Bruno ursprünglich stammt. Urszenen seiner Biografie verbinden ihn mit dem People’s Park. Seine entfremdete Existenz als Spieler, der sich weltweit herumreichen lässt, hat wohl auch damit zu tun, dass er eher die zerstörerischen Seiten der alternativen Träume in Kalifornien erlebt hat.

In der Bay Area trifft er auf ein wahres Pandämonium an Figuren, zum Beispiel einen Spitzenchirurgen, der zu seinen Eingriffen sehr laut Jimi Hendrix hört. Vor allem aber ist es ein Mann aus seiner Jugend, der mit Bruno ein zynisches Spiel beginnt, bei dem es keine Würfel gibt, sondern nur fiese Züge. Lethem schildert diesen Keith Stolarsky anschaulich als eine Fratze des Reichtums, einen grindigen Typen, der mit einem Zombie-Burgerladen und anderen Geschäften in Berkeley die Träume der Kinder der Blumenkinder ausbeutet.

Das widerständige Amerika

Zwar gibt es auch dagegen das eine oder andere Nest des Widerstands, aber Lethem lässt wenig Zweifel, dass die Hoffnung auf einen Krawall, gar auf einen richtigen Aufstand nicht wirklich begründet ist. Da kann Bruno sich noch so sehr als "Märtyrer der Anarchie" stilisieren, mehr als eine Nacht im Gefängnis kommt bei dem kümmerlichen Versuch einer Revolution nicht heraus. Und der Berliner Pflasterstein, den Bruno die ganze Zeit wie einen Talisman mit sich herumträgt, öffnet eben keine Lücke, unter der sich ein Strand entdecken ließe.

Seit Motherless Brooklyn und Die Festung der Einsamkeit schreibt Jonathan Lethem das große Epos des widerständigen Amerika. Mit Anatomie eines Spielers (das Original erschien 2016) weitet sich sein Blick auf ein globales System, das Komparsen wie Alexander Bruno braucht: Er dient Menschen, die alles abräumen, dazu, sich an einer Schwachstelle kitzeln zu lassen.

Lethem erzählt anschaulich und plausibel von internationalen Schauplätzen, vor allem Singapur dient ihm nicht nur als Handlungsort, sondern auch als Sinnbild, eine Enklave, in die es aus den Palmöl-Monokulturen Malaysias herüberstinkt.

Die anatomischen Erfahrungen, die Alexander Bruno macht, laufen schließlich auf ein Leitmotiv in der globalen Überwachungsgesellschaft hinaus. Er durchlebt verschiedene Stadien der Maskierung und der Anonymisierung. Er wird ein Anderer, ein Unerkennbarer, denn er weiß, um es mit einer der vielen gelungenen Formulierung von Lethem zu sagen: Das letzte wahre Blatt wird nicht in Karten ausgeteilt, sondern in Körpern. (Bert Rebhandl, ALBUM, 7.8.2021)