In dieser Nacht begriff ich, dass ich die verbleibende Zeit, die guten Jahre, anders nutzen sollte als nur mit Party, Spaß und Verdrängung.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

An das Gespräch selbst erinnere ich mich kaum noch. Mir kommt es so vor, als habe es höchstens zehn, fünfzehn Minuten gedauert – aber das kann eigentlich nicht sein bei all den Untersuchungen, die die Neurologin mit mir gemacht hat. Ich erinnere mich auch nicht mehr daran, wie sie es mir letztlich gesagt hat. Oder an meinen ersten Gedanken, nachdem sie die Diagnose ausgesprochen hatte.

Dafür erinnere ich mich ganz deutlich an alles, was danach passierte. Wie ich die Haustür des Gebäudes, in dem sich die Arztpraxis befand, hinter mir zuzog und dann einfach nur dastand auf einer Straße in Berlin-Mitte. Wie sich mein Blick auf die Sonnenblumen heftete, die in einem riesigen Eimer vor dem Blumenladen nebenan standen. Die anderen Passanten nahmen sie nur flüchtig wahr – wenn sie nicht eh gerade auf ihre Smartphones starrten. Ich hingegen war überwältigt von der sattgelben Blumenpracht.

Eine junge Frau blieb stehen und zog zwei lange Stiele mit besonders großem Blütenkorb aus dem Eimer, drückte dem Verkäufer einen Schein in die Hand und lief, die Blumen vor sich hertragend, mit strahlendem Gesicht an mir vorbei. Wie einfach es doch manchmal sein kann, glücklich zu sein. Wie wichtig kleine Details sind, um sich den Tag zu verschönern.

Was sollte ich nun bloß mit meinem Detail des Tages machen? Mit dieser Neuigkeit, die wahrscheinlich mein Leben komplett verändern würde? Wie soll ich damit umgehen? Ich wischte mir erst einmal die langen blonden Haare aus dem vom Schweiß klebrigen Gesicht.

Ungewollter Neuanfang

Pamela Spitz merkte, dass sie sich auf Dinge konzentrieren möchte, die sie wirklich glücklich machen: auf das Reisen und Schreiben.
Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Es war ein heißer Sommertag im Jahr 2016, die Mittagssonne brannte. Ich trug Shorts und ein T-Shirt und blieb eine Weile einfach so stehen, während sich die Menschen an mir vorbeidrückten. In diesem belebten Kiez habe ich viele Jahre gelebt. Ich kannte jede Straßenecke, jedes Graffito, jeden Gemüseverkäufer und Barkeeper, hatte mich viele Jahre über hier wohlgefühlt.

Bis ich vor kurzem beschlossen hatte wegzuziehen, weil ich mich nach einem kompletten Neuanfang gesehnt hatte. Nachdem ich mich von meinem Mann getrennt und den Arbeitgeber gewechselt hatte, wollte ich auch Abwechslung in meiner Umgebung, wollte Berlin neu für mich entdecken, ich brannte geradezu auf Aufregung.

Tja, nun würde ich tatsächlich mit einem kompletten Neuanfang konfrontiert sein. Nur ungewollt. Und auf einen Schlag. So was nennt man, glaube ich, wohl Schicksalsschlag. Es war, als hätte ich mir ganz tief in den Finger geschnitten, aber der Schmerz noch nicht richtig da wäre, weil die Schmerzrezeptoren die Information noch nicht an das Gehirn weitergeleitet hatten. Ich glaube, ich befand mich genau in diesem Zwischenzustand, während ich immer noch regungslos auf der Straße stand.

Nicht so viel denken

Es dauerte noch eine Weile, bis ich mich wieder in Bewegung setzen konnte. Schließlich ging ich zu meinem Fahrrad, band mir das Schloss um die Taille und fuhr los. Komischerweise spürte ich jetzt, als ich mich bewegte, so etwas wie Erleichterung.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Mir schoss durch den Kopf, dass es mir nun tatsächlich erspart bleiben würde, mich um diese dämliche Altersvorsorge zu kümmern, von der immer mehr Leute in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sprachen und mit der ich mich als Freiberuflerin eigentlich dringend hätte beschäftigen müssen.

Was für ein Glück es doch war, dass ich keine Kinder hatte, dachte ich. Und auch, wie gut es war, dass die Trennung von meinem Mann schon seit einem halben Jahr durch war. Mit dem, was mir die Neurologin gerade eröffnet hatte, wäre ich wahrscheinlich doch zurück ins wohlbehütete Ehenest gekrochen, wenn wir noch in der Trennungsphase gewesen wären.

Ich versuchte, mich auf das Kopfsteinpflaster zu konzentrieren und nicht so viel zu denken. Dachte dann aber doch an den Reisepass, den ich erst kürzlich hatte erneuern lassen, und daran, dass er zehn Jahre gültig war.

Noch zehn Jahre, dachte ich, zehn gute Jahre. Dann ist wahrscheinlich eh Schluss.

Seltsam entrückt

Vor der Redaktion einer deutschen Tages- und Wochenzeitung, in der ich freiberuflich als Fotoredakteurin arbeite, stellte ich mein Fahrrad ab und kramte nach meinem Handy. Zuerst rief ich in der radiologischen Abteilung der Universitätsklinik an und machte einen Termin für die Computertomografie, die die Neurologin noch zur Bestätigung ihrer Diagnose brauchte. In drei Wochen hatten sie einen Termin frei. Dann wählte ich die Nummer meiner Mutter. Sie ging sofort ran.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Ich atmete tief durch.

"Mama, bei mir wurde gerade Morbus Parkinson diagnostiziert."

Meine Mutter war klug genug, nicht panisch zu reagieren. "Alles klar", sagte sie nur, "ich recherchiere, was das bedeutet." Wir verabredeten uns für den Abend, um ausführlicher zu sprechen, und ich ging zurück in die Redaktion. Meine Mittagspause war vorbei.

Im Newsroom war es angenehm kühl. Ich lief zu meinem Platz, legte den kleinen Rucksack ab und tippte mein Passwort in die Tastatur, um den Rechner zu reaktivieren. Ich fühlte mich seltsam entrückt von der Realität um mich herum. Und unwichtig. Trotzdem wollte ich mich in die Arbeit stürzen.

Die Fotos der Nachrichtenagenturen aus aller Welt, die ununterbrochen auf dem Redaktionsserver landeten und die ich normalerweise sichtete, aussortierte und den Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stellte, sollten mich davon abhalten, über meine Situation nachzudenken. Mechanisch scrollte ich die Bilderflut rauf und runter, versuchte, Fotorechercheanfragen aus der Textredaktion zu beantworten, aber in Wahrheit war ich nicht zu viel zu gebrauchen.

Verlust des Geruchssinns

Irgendwann begann ich "Morbus Parkinson" zu googeln. Ich stieß auf Youtube-Videos von Menschen, deren ganze Körper zitterten, die weder ein Glas Wasser halten noch Schnürsenkel zubinden konnten. Daraufhin holte ich mir aus der Redaktionsküche eine Flasche Sprudelwasser und trank sie in einem Zug aus.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Ich suchte weiter, wollte mehr über die Symptome erfahren, vor allem über den Verlauf dieser degenerativen neurologischen Krankheit. Was bedeutete das für meine nähere Zukunft, und wie konnte ich mich darauf vorbereiten?

Ich wusste kaum etwas über Parkinson. Nur dass die Krankheit unheilbar war und dass ich dafür ungewöhnlich jung war mit meinen einundvierzig Jahren. Bei den meisten Patienten beginnen die Symptome der Krankheit erst, wenn sie über sechzig oder sogar siebzig Jahre alt sind.

Mein erstes Symptom war bereits vor Jahren der Verlust des Geruchssinns. Ähnlich wie bei einem Hörsturz verlor ich von einem Tag auf den anderen achtzig Prozent meiner Fähigkeit zu riechen. Die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, die ich deshalb besuchte, konnten mir keine Antwort auf das Warum geben, entnahmen mir die Polypen und gaben mir den Ratschlag, meinen Geruchssinn mit täglichem Riechen an ätherischen Ölen zu trainieren. Letztendlich hatten sie keine Ahnung, was los war. Und ich sowieso nicht.

Vor ein paar Monaten dann war mir plötzlich aufgefallen, dass meine linke Hand unbeweglicher wurde. Wenn ich sie bewegte, spürte ich immer eine Art Widerstand, so als würde ich sie langsam durch Wasser ziehen. Zunächst schenkte ich der Sache nicht viel Aufmerksamkeit. Wie gesagt: Ich war gerade glücklicher Single geworden, wollte meine neu gewonnene Freiheit genießen – und dachte einfach nur, ich hätte die Hand wohl beim Tindern überlastet.

Die Wahrheit

Dann aber war ich eines Abends bei Freunden zum Essen eingeladen, und als ich ein Glas Wein in der linken Hand hielt, begann sie stark zu zittern. Ich hatte keine Kontrolle mehr über sie. Meine Reaktion? Ich versteckte die Hand unter dem Tisch, weil ich befürchtete, die anderen könnten wegen des Zitterns denken, ich sei Alkoholikerin. Noch immer versuchte ich zu ignorieren, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Dabei hatte ich in Wahrheit schon seit Monaten dieses Gefühl, dass mir irgendetwas bevorstehen würde. Ich wusste, dass ich meinen Körper überforderte. Zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, viel zu viel Party.

Ich lebte mein neues Singledasein auf Kosten meiner Gesundheit aus. Ich wollte Abenteuer, Feiern, Dating, Sex. Suchte immer wieder nach dem Unvorhersehbaren, ließ mich auf abenteuerliche Aktionen ein und genoss den Frühling und Sommer in vollen Zügen.

Ich hatte das Gefühl, Verpasstes nachholen zu müssen, und ließ nichts aus, im Job, beim Sport, beim Feiern. Und auch wenn eine Herausforderung mal eindeutig zu viel für mich und meinen Körper war: Ich sagte trotzdem nicht Nein. Man könnte mein Verhalten wohl auch als klassische Midlife-Crisis bezeichnen.

However: Je länger es ging mit dieser Ausbeutung meines Körpers, desto öfter hatte ich ein mulmiges Gefühl, diesen Hauch einer Ahnung. Es war, als hätte ich unbewusst nur darauf gewartet, dass mein Körper endlich reagiert. Tja. Nun wusste ich wenigstens, wie.

Abends fuhr ich zu meiner Mutter. Wir fielen uns in die Arme. Und ja, wir lachten auch viel an diesem Abend. Versuchten, die Krankheit wegzulachen, auszulachen. Sie sagte, dass sie das mit mir gemeinsam durchstehen werde, dass wir das mit Pragmatismus und positiver Herangehensweise schon alles hinbekommen würden. Sie steckte mich an mit ihrem Optimismus und ihrer zupackenden Art.

Schließlich sterbe ich noch nicht, dachte ich, meine Mutter hat recht: Ich muss einfach nur mein Leben umstellen. Ich kann etwas tun. Sie wusste um meinen Lebensstil der letzten Monate und bat mich inständig, endlich damit aufzuhören. Und ich versprach ihr, gleich morgen anzufangen mit dem Aufhören.

Party und Sorglosigkeit

Die Wahrheit war: Ich wollte mein Leben nicht ändern. Ich hatte überhaupt keine Lust, aufzuhören mit Party und Sorglosigkeit. Ich recherchierte auch nicht mehr im Internet, und als ich drei Wochen nach der Diagnose in der CT-Röhre lag, stellte ich mir vor, das Klopfen und Rattern und Dröhnen der Maschine seien die Musik aus dem Berghain. Das gefiel mir.

War ich doch schon lange nicht mehr im Club aller Berliner Clubs gewesen, seitdem er so berühmt geworden war, dass das feierwütige Volk aus aller Welt angeflogen kam, um dort stundenlang anzustehen, in der vagen Hoffnung, irgendwann doch noch in den Tempel der Ekstase eingelassen zu werden.

Foto: Pamela Spitz, Kiepenheuer & Witsch

Wahrscheinlich wurde mein Leben sogar noch schneller. Noch mehr Party. Noch mehr oberflächliche Jungs und Männergeschichten. Noch mehr Ablenkung. Jeden Tag und jeden Abend war ich unterwegs, machte zwar Sport, nahm aber auch Drogen, besuchte Musikfestivals, auf denen ich vorher noch nie gewesen war, begann eine Liaison mit einer Frau, hing ständig in Bars herum und wollte einfach weiterhin alles ausprobieren, was ich nicht kannte.

Meine körperlichen Symptome waren noch relativ zurückhaltend, und ich fühlte mich stark und gut. Ich genoss die Intensität des Augenblicks und hatte keine Lust, mir ernsthafte Gedanken über die Zukunft zu machen, mir von der Diagnose meinen Lebensstil verändern zu lassen. Obwohl meine Dopamin produzierenden Nervenzellen in meinem Gehirn nach und nach wegstarben.

Allein sein

Anders war nur dieses eine Gefühl. Es tauchte gleich am Tag der Diagnose auf, als ich mit meinem Fahrrad über das Kopfsteinpflaster Berlins fuhr; ich hatte es in der Redaktion, als ich meine Kollegen beobachtete. Immer wieder schlich es sich in meine Seele, tagsüber in der S-Bahn, abends in Bars, nachts auf dem Heimweg.

Am stärksten war es vielleicht, als ich auf diesem Festival für elektronischexperimentelle Musik in Polen war. Ich tanzte das ganze Wochenende, aber immer ein bisschen abseits. Denn wenn ich mich mitten in einer Menschenmenge befand, ging mir schon damals manchmal das Gleichgewicht verloren – ein weiteres Symptom der Krankheit. Am letzten Spätnachmittag kletterte ich allein auf einen Heuballen und beobachtete das Geschehen um mich herum. Ich hatte halluzinogene Pilze genommen, und meine Wahrnehmung war intensiviert.

Ich sah mir die Menschen an, wie sie lachten und Spaß hatten. Zwischen mir und ihnen war auf einmal eine unüberwindbare Distanz. So als würde ich sie aus der Vogelperspektive betrachten. Mir war es unangenehm, den anderen emotional nah zu sein, denn ich fühlte mich angreifbar und verletzlich. Ich wollte allein sein. Wollte nicht, dass irgendjemand mitbekam, was ich empfand oder dachte.

Plötzlich war dieses Gefühl wieder da, diese alles vereinnahmende Melancholie. Für die anderen war der Moment selbstverständlich, aber ich konnte sehen, wie kostbar das war, was sie hatten. Es war wohl eine Art Trauer. Trauer um die Zeit, die ich nicht haben werde. Also verkroch ich mich irgendwann in mein Zelt und schlief ein, während alle anderen weit über den Sonnenaufgang hinaus weiterfeierten und nackig in den See sprangen.

In dieser Nacht begriff ich, dass ich die verbleibende Zeit, die guten vielleicht zehn Jahre, anders nutzen sollte als nur mit Party, Spaß und Verdrängung. Ich musste dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich musste weg, raus aus der Stadt. Allein sein. (Pamela Spitz, Vorabdruck im ALBUM, 8.8.2021)