Dass sämtliche Regierungskonstellationen der vergangenen Jahre eine umfassende Pflegereform vor sich hergeschoben haben, könnte sich bald rächen. Denn: Wir werden älter. Damit braucht es auch mehr Menschen, die uns pflegen. Laut der Pflegepersonal-Bedarfsprognose des Sozialministeriums wird die Anzahl der über 85-Jährigen in Österreich bis 2030 um 45 Prozent steigen. Gleichzeitig soll ein Drittel jener, die in der Pflege und Betreuung tätig sind, bis 2030 in Pension gehen.

Es braucht weitere 76.000 Pflegekräfte, damit der Personalbedarf bis dahin gedeckt ist. Ein Großteil der Pflege wird aber auch von Angehörigen übernommen. 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden zu Hause umsorgt. Dabei handelt es sich nicht nur um Alte, sondern auch um Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Beeinträchtigung.

Ein Drittel der pflegenden geht bis 2030 in Pension.
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Die Entscheidung zur Pflege in der Familie erfolgt nicht nur aus finanziellen Überlegungen, sagt Hanna Mayer, Vorständin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Uni Wien. "Viele wollen ihren Eltern etwas zurückgeben", sagt die Pflegewissenschafterin.

Schwierige Vereinbarkeit mit Beruf

Doch Familienmitglieder oder Partner zu Hause zu pflegen geht oft auf Kosten der eigenen Karrieremöglichkeiten. In einer Studie zur Angehörigenpflege des Sozialministeriums gaben 13 Prozent der Befragten an, dass sie nicht mehr berufstätig sind. Lediglich als "mittelmäßig" stuften 44 Prozent der Befragten ihren eigenen Gesundheitszustand ein. Kein Wunder, ist die Care-Arbeit zu Hause doch nicht nur körperlich und emotional fordernd, sondern erfolgte bisher auch unbezahlt.

Ändern will man das im Burgenland, wo Angehörige seit Oktober 2019 in einem Dienstverhältnis mit dem Land Familienmitglieder pflegen können. Einen ähnlichen Weg geht Oberösterreich. Dort startet ein Pilotprojekt für Eltern beeinträchtigter Kinder, die sich ab dem 1. September auf ein Jahr befristet anstellen lassen können. Sie müssen dafür eine Grundausbildung zum Alltagsbegleiter absolvieren und von Pflegefachkräften im Alltag unterstützt werden. Auch Wiens Stadtrat Peter Hacker hat den Fonds Soziales Wien damit beauftragt, ein solches Konzept zu erarbeiten.

Aufwertung und Anerkennung

Die Vorteile einer Anstellung liegen auf der Hand: Pflegende Angehörige sammeln Pensions- und Versicherungszeiten und Anerkennung für ihre Arbeit. Auch dem Bedarf an Pflegepersonal kann so begegnet werden. Doch geht die Rechnung auf, dass die Anstellung Angehöriger unseren Pflegenotstand löst? Bei dem Modell seien noch viele Fragen offen, meint Pflegeforscherin Mayer. Dennoch sieht sie Vorteile: "Grundsätzlich kann eine Anstellung sozial und finanziell absichern und bringt eine gesellschaftliche Aufwertung für unbezahlte Care-Arbeit und gerade für Personen, die sonst nicht berufstätig sind", sagt Mayer.

Bei der Anstellung pflegender Familienangehöriger sind noch einige Fragen offen.
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Auch dass man Ausbildungsstunden, die für eine Anstellung Angehöriger verpflichtend sind, für die Qualifizierung zur Heimhilfe anrechnen kann und sich dadurch berufliche Perspektiven ergeben, habe etwas Gutes. Aber: "Nicht alle pflegenden Angehörigen sind berufs- und ausbildungslos", sagt Mayer. Auch hätten nicht alle dieselben Vorerfahrungen. Ein verpflichtender Kurs über basale Pflegetätigkeiten im Alltag nütze nicht allen, Schulungen müssten situativ angepasst werden.

Das weiß auch Sandra Haupt aus Wien. Gemeinsam mit ihrem Mann pflegt sie ihre mehrfach schwerstbehinderte Tochter zu Hause. "Unser Kind abzugeben stand für uns nie zur Debatte", sagt Haupt. Ihren Vollzeitjob hat die pflegende Mutter aufgeben. Sie möchte am Wiener Pilotprojekt teilnehmen. Doch Familie Haupt ist noch einiges unklar. Etwa ob sie fremde Betreuer in Zukunft bei der Pflege unterstützen müssen oder ob das Ehepaar künftig nicht mehr selbst Medikamente verabreichen darf. "Bisher hat uns auch niemand auf die Finger geschaut", sagt Christoph Haupt.

Faktor Finanzierung

Die pflegenden Eltern fragen sich, ob die Anstellung auch finanzielle Nachteile bringt. Unklare Arbeitszeiten Ein Punkt, den auch Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger, kritisiert: "So wichtig die finanzielle Entlastung pflegender Angehöriger ist: Pflegebedürftige müssen einen Großteil des Pflegegelds und ihrer Pension abgeben, um Angehörige anstellen zu können. Diese finanziellen Verluste können Anstellungsmodelle nicht ausgleichen."

Mit dem Anstellungsmodell verschwimmen zudem die Grenzen zwischen professioneller Pflege und privater Betreuung, sagt Pflegewissenschafterin Mayer: "Bin ich nach acht Stunden Arbeit dann wieder die Tochter? Was, wenn meine Mutter dann noch Hilfe braucht?" Auch wie pflegende Angehörige entlastet werden können, lässt das Anstellungsmodell offen, sagt Mayer. "Auch für professionelle Pfleger ist der Beruf emotional fordernd, diese aber können nach Acht- oder Zwölf-Stunden-Diensten den Arbeitsplatz verlassen."

Auch aus wirtschaftlicher Sicht wäre es am sinnvollsten, mehr in die soziale Infrastruktur, etwa mobile Dienste, zu investieren und dem Ausbleiben professioneller Pflegekräfte entgegenzuwirken, sagt Andrea Schmidt von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). Die Wertschöpfungseffekte seien bei öffentlichen Investitionen in professionelle Pflege größer als beim Anstellungsmodell für pflegende Angehöriger.

Das Modell sei also eine Ergänzung, ersetze aber nicht den Ausbau professioneller Pflege- und Betreuungsformen, so Schmidt.Künftig wird eine Vielfalt an Pflege- und Betreuungsformen wichtig sein, sagt auch Pflegewissenschafterin Mayer. Die Arbeit Angehöriger sei wichtig und müsse honoriert werden, doch müsse ein Gesundheitssystem auch ohne sie funktionieren. "Das Modell hat durchaus Vorteile für Angehörige, wirft aber noch viele Fragen auf und ist keinesfalls eine Lösung für die prekäre Situation der Pflege." (Allegra Mercedes Pirker, 8.8.2021)