Sars-CoV-2 mutiert zufällig. Hat es durch die Mutation aber einen Vorteil, kann sich die neue Variante gegen vorherige durchsetzen. So geschehen etwa bei Delta.

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Das Coronavirus will nur eines: sich vermehren. Dazu muss es sein Erbgut kopieren, in diesem Prozess passieren jedoch immer wieder Fehler. Virusvarianten sind zuallererst also Zufallsprodukte. Nicht immer haben diese kleinen zufälligen Veränderungen Auswirkungen. Führt eine Mutation aber dazu, dass sich das Virus leichter übertragen oder dem Immunschutz besser ausweichen kann, ist das ein Wettbewerbsvorteil. Gegen seine Mitstreiter kann sich das mutierte Virus dadurch besser durchsetzen – und womöglich zur vorherrschenden Variante in einer Region werden.

Das zeigte auch der Vormarsch der Delta-Variante (B.1.617.2): Nachdem der Viruswildtyp von der infektiöseren Alpha-Variante (B.1.1.7.) verdrängt wurde, hat sie sich nach und nach durchgesetzt und dominiert nun in vielen Teilen der Welt das Infektionsgeschehen – laut globalen Datenanalysen ist Delta um 40 bis 60 Prozent ansteckender als ihr Vorgänger Alpha.

"Im bisherigen Pandemieverlauf hatten jene Varianten einen Selektionsvorteil, die infektiöser waren", sagt der Molekularbiologe Ulrich Elling, der am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen Großteil der Viren-Sequenzierungen in Österreich durchführt. "Die steigende Immunität innerhalb der Bevölkerung, sei es durch die Impfung oder durchgemachte Erkrankungen, könnte das nun ändern." Denn: In einer solchen Situation setzen sich nicht mehr die infektiöseren Varianten durch, sondern jene, die dem Immunschutz am besten entwischen können.

"Heikle Phase" in Pandemie

Auch ein Forscherteam am Institute of Science and Technology (IST Austria) hat kürzlich berechnet, wie wahrscheinlich die Ausbreitung einer solchen Fluchtvariante in einer Population von zehn Millionen Menschen über einen Zeitraum von drei Jahren ist. Dazu haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter ein epidemiologisches Modell um evolutionäre Annahmen zur Entstehung von Mutationen sowie den Einfluss der Impfung auf die Pandemie erweitert.

Ihre Berechnungen im Fachmagazin "Nature" zeigten: Das Risiko, dass sich eine Fluchtvariante etabliert, sei dann erhöht, wenn ein großer, aber nicht ausreichender Teil der Bevölkerung geimpft ist und die Infektionen gleichzeitig nicht durch Maßnahmen kontrolliert werden. Ein solcher Erreger trat in den Berechnungen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf, wenn ungefähr 60 Prozent der Population immunisiert waren.

"Wir stehen in einer heiklen Phase der Pandemie", sagt Elling. Auch wenn niemand genau vorhersagen könne, wie sich das Virus weiterentwickelt, haben sich laut Elling zwei Gewissheiten herauskristallisiert. Die erste lautet: Jede Infektion gibt dem Virus eine Möglichkeit zu mutieren. Die zweite Gewissheit ist: Dass sich fittere Variante bilden, dafür ist auch die Art, wie die Pandemie gemanagt wird, verantwortlich. "Wir züchten uns Varianten, die am widerstandsfähigsten sind", sagt Elling.

Fluchtvariante könnte im Herbst kommen

Man kann sich das vorstellen wie bei der Einnahme von Antibiotika: Bricht man die Kur kurz vor dem Ende ab, hat man zwar einen Großteil der Keime abgetötet, übrig bleiben aber jene, die am resistentesten sind. Das Gleiche, so Elling, geschehe bei der Bekämpfung des Coronavirus: Durch Maßnahmen im Frühjahr habe man zwar die Alpha-Variante in den Griff bekommen, bei der infektiöseren Delta-Variante waren sie aber weit weniger wirksam. Als man die Maßnahmen dann verfrüht aufhob, verschaffte man der Delta-Variante damit einen Vorteil: Ihr Mitstreiter Alpha war eingedämmt, Delta konnte sich nun rasant verbreiteten. Nun wiederhole sich das mit den Impfungen.

"Weil wir die Maßnahmen nicht durchhalten, begünstigen wir Varianten, die den Immunschutz umgehen können", sagt Elling. Auch wenn die Impfungen im Fall der Delta-Variante nach wie vor gut gegen schwere Verläufe schützen, sei es deshalb fatal, hohe Fallzahlen zuzulassen. "Bereits im Herbst oder Winter könnte eine Variante überhandnehmen, bei der der Schutz merklich abnimmt."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt nun auch das offizielle Expertengremium der britischen Regierung. In einem Preprint beschreiben die Expertinnen und Experten das Auftreten von Fluchtvarianten als "fast sicher".

"Die Impfung ist unsere stärkste Waffe", sagt Elling. Damit sie aber wirksam bleibt, müsse man die Infektionen gerade während laufender Impfprogramme niedrig halten, bis ausreichend viele Menschen geimpft sind – das gelte für die gesamte Weltbevölkerung. "Ansonsten überholt uns das Virus erneut." (Eja Kapeller, 10.8.2021)