Auch in großen Städten Afghanistans wird die Lage immer prekärer: Bei einem Autobombenanschlag in Kabul diese Woche wurden 13 Menschen getötet.

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Seit April mehr als 5.500 Attacken und Anschläge, insgesamt mehr als 6.000 Tote: Botschafterin Manizha Bakhtari zog am Freitag im Ö1-Radio eine dramatische Bilanz des Vormarschs der Taliban in Afghanistan – und sie ist nur vorläufig. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich die Lage nach dem bald endgültigen Abzug internationaler Truppen weiter zuspitzen wird.

Auch von der EU-Kommission kamen zuletzt dramatische Worte: Vor allem in von Taliban kontrollierten Gebieten finden Verstöße gegen die Menschenrechte statt, einige Taten könnten als Kriegsverbrechen gelten, hieß es in einer Erklärung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und des für Krisenhilfe zuständigen Kommissars Janez Lenarčič am Donnerstag. Es gebe eine Eskalation der Gewalt und immer heftigere Angriffe der Taliban auf die Zivilbevölkerung, etwa willkürliche und außergerichtliche Tötungen von Zivilisten, öffentliche Auspeitschungen von Frauen und Zerstörung von Infrastruktur.

Botschafterin Bakhtari betonte auf Ö1, dass große Städte wie Kabul und Herat vielleicht noch vor wenigen Wochen teilweise sicher gewesen seien, doch mittlerweile sei auch dort die Lage gefährlich. Bei einem Autobombenanschlag auf eine Residenz des Verteidigungsministers wurden in der afghanischen Hauptstadt am Dienstag mindestens 13 Menschen getötet. Am Freitag töteten die Taliban in Kabul Regierungssprecher Dawa Khan Menapal. Seit dem Wochenende finden heftige Kämpfen zwischen afghanischen Regierungstruppen und Taliban-Kämpfern in Vororten Herats statt. Am Freitag eroberten die radikalen Islamisten auch erstmals bei ihrer jüngsten Offensive eine Provinzhauptstadt: Die Stadt Sarandsch in Nimroz im Süden des Landes sei von den Taliban eingenommen worden, teilte die Provinzpolizei mit.

Abschiebestopp über Oktober hinaus

Die Regierung in Kabul hatte europäische Staaten bereits Mitte Juli darum gebeten, Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate einzustellen. "Ich dränge darauf, dieser Bitte Folge zu leisten", sagte Bakhtari am Freitag. "Wir sind nicht in der Lage, Abgeschobene aufzunehmen." Die Botschafterin appellierte auch, Abschiebungen nicht nur bis Oktober zu stoppen, sondern auf vorerst unbestimmte Zeit. Sobald sich die Sicherheitslage verbessere, sollten die Rückführungen wiederaufgenommen werden.

Die Botschafterin wurde nach dem Ö1-Interview ins Außenministerium einbestellt, an dem Gespräch am Freitagnachmittag nahm auch ein Vertreter des Innenministeriums teil. Der Vorgang kennzeichnet zwar formell nur eine untere Stufe einer diplomatischen Maßnahme, war aber doch als deutliches Zeichen des Protests aus Wien zu verstehen. Man sei "überrascht" über die Aussagen Bakhtaris, "nachdem es erst vergangene Woche anderslautende Signale gegeben hatte", teilte das Außenministerium auf Anfrage des STANDARD mit. Das Gespräch mit der Botschafterin sei aber konstruktiv verlaufen. Welche "anderslautenden Signale" konkret gemeint sind, ließ das Ministerium auch nach dem Termin unbeantwortet.

Kabul fordert bereits seit Wochen einen Abschiebestopp. Schweden, Finnland und Norwegen waren der Bitte gefolgt und führen bis auf Weiteres keine Abschiebungen nach Afghanistan durch. Österreich und Deutschland halten auch nach einem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestoppten Abschiebeflug an Rückführungen fest. "Eine Aussetzung von Abschiebungen steht nicht zur Debatte", hieß es vom Außenministerium in Wien am Freitag erneut. Aus Berlin wurde angekündigt, der am Dienstag kurzfristig abgesagte Flug werde "zeitnah" nachgeholt.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) will sich gemeinsam mit Deutschland, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Griechenland dafür einsetzen, dass Rückführungen nach Afghanistan aufrecht bleiben, um in erster Linie straffällig gewordene Afghanen aus der EU zu bringen.

Vom Koalitionspartner kam Kritik: Die Frage, ob Abschiebungen nach Afghanistan noch vertretbar sind, stelle sich gar nicht mehr, schrieb Ewa Ernst-Dziedzic, außenpolitische Sprecherin der Grünen, auf Facebook. "Wer das verneint, verweigert die Realität, dass die afghanische Regierung keine Landeerlaubnis mehr vergibt." Ernst-Dziedzic forderte einen Sicherheitsgipfel zu dem Thema.

Möglicher Präzedenzfall

Das Innenministerium hält allerdings die einstweilige Verfügung ("interim measure") des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die am Dienstag die Abschiebung eines Afghanen verhindert hatte, für einen Einzelfall.

Die Maßnahme des EGMR betrifft zwar tatsächlich nur den Antragsteller selbst: Sie gilt bis 31. August, eine Abschiebung bis dahin würde einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellen. Die Fragen, die der EGMR an die Republik richtet, deuten aber darauf hin, dass es den Straßburger Richtern um die allgemeine Situation in Afghanistan geht. Der Gerichtshof spricht von der "neuen Sicherheitslage in Afghanistan", ohne etwa eine bestimmte Zielregion hervorzuheben. "Wenn der EGMR deutlich macht, dass es sich um ein allgemeines Problem handelt, muss man damit rechnen, dass auch die nächsten geplanten Abschiebungen vorläufig verhindert werden können", sagt Verfassungsjurist Heinz Mayer. (maa, japf, 6.8.2021)