Eine paradoxe Eigenschaft fotografischer Bilder ist, dass sie oftmals erst mit zeitlicher Verzögerung lesbar werden. Mit dem Vergehen von Zeit verschiebt sich die Sicht auf das Abgebildete – und eine neue Sicht auf das Bild oder die Bilder drängt nach vorn", konstatiert Maren Lübbke-Tidow. Wie sehr Status quo und Rezeption des Seins divergieren können, scheinen wir dieser Tage alltäglich schmerzhaft wahrzunehmen.

"Die Corona-Krise hat einige fundamentale Missverständnisse des Kulturbetriebes aufgedeckt. Der Kunstbetrieb hat seine eigenen kulturellen Voraussetzungen nicht verstanden", analysiert Peter Weibel in einem langen, wie üblich elaborierten, fein ziselierten, ja programmatischen Essay. Im Fokus: "die Krise – und danach?!" "Jene Museumsleute, die von Aura schwärmen, haben Walter Benjamin nie verstanden", fügt er hinzu.

Medienzampano Weibel ist einer von vielen Künstlerinnen, Künstlern und Autoren, die von der internationalen Zeitschrift für Fotografie und Medienkunst, Eikon, anlässlich der globalen Krise einerseits und des eigenen Jubiläums andererseits eingeladen wurden, in der aktuellen Ausgabe ihre analytische Sicht der Dinge darzulegen. "Zwischenmenschlichkeit und die Beziehung zu anderen waren und sind immer die wesentlichen Aspekte meiner künstlerischen Praxis", bekennt Elodie Grethen. Über den Stillstand, die Katastrophe des dekretierten, realiter asozialen Social Distancing sinnieren Nathalie Herschdorfer, Anja Manfredi, Kathrin Schönegg, Barbara Probst und viele andere.

"Eine Krise ist nie etwas Positives"

Eikon-Chefredakteurin Nela Eggenberger formuliert Idee und Impetus im Vorwort der aktuellen Ausgabe derart: "Eine Krise ist nie etwas Positives. Man muss zu allererst diese vielen negativen Dinge, die passieren, überhaupt erst einmal bewältigen – wie Max Hollein in einem online übertragenen Gespräch zu dem Thema, wie Museen in Zeiten permanenter Planungsunsicherheit agieren, sagte. Dass die aktuell so herausfordernde Situation Kulturschaffende dazu zwingt, Abläufe zu hinterfragen, die Kommunikation nach außen zu optimieren oder sich ganz einfach an vollkommen neue Formate anzupassen, fördert aber zugleich ein enormes Potenzial ans Licht. (...) Nach über einem Jahr Covid-Krise mit all ihren Begleiterscheinungen war es auch für die von Carl Aigner 1991 gegründete Zeitschrift Eikon an der Zeit mit Im Fokus: die Krise – und dann? eine Art Zwischenbilanz zu ziehen."

Vertreter neuer Medien, von Kunst und Fotografie berichten von ihren Beobachtungen, Erfahrungen und Lösungsansätzen. Die Dichotomie der analogen Welt und der Digitalisierung drängt unaufhörlich nach. Nebst zahlreichen Rezensionen zu aktuellen Ausstellungen, neuen Publikationen und Veranstaltungen bietet Eikon im 30-Jahr-Jubiläums-Heft auch ein ausführliches Gespräch zwischen "zwei Beobachtenden", dem Schriftsteller Ferdinand Schmatz und der dieser Tage ihren 80. Geburtstag feiernden Foto-Ikone Elfie Semotan.

"Eikon" 114, Intern. Zeitschrift für Photographie und Medienkunst.
Hg.: ÖIPM. Einzelheft: € 15,– / Jahresabo: € 60,–.
MQ, Wien 2021
Foto: eikon

Ernst Jandl hat einmal gesagt, dass Beobachten, Transformieren und dann Sicheinbringen der Weg des literarischen Vorgangs ist. Ähnlich sei es bei Fotografie. "Das Interessante an der Fotografie ist, dass man eben das, was wir schon 100-mal gesehen haben, plötzlich wieder einmal anders sehen kann. Das Medium selbst ist offen und natürlich ein Changement zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Dazu braucht es viel Fingerspitzengefühl. Man gibt nur eine mögliche neue Interpretation oder Richtung vor (...), man kann nur die Dinge anders zusammenfügen." (Gregor Auenhammer, 7.8.2021)