Ist die Bratwurst der Schlüssel zur Herdenimmunität? In Deutschland versucht man es zumindest auch auf diesem Weg. Und sehr viele geben ihren Senf dazu.

Foto: imago images/Rolf Poss

Martin Sailer, Landrat im schwäbischen Bobingen, wird heute Nachmittag den Grill anwerfen und Bratwürste brutzeln. Er macht das nicht zum Privatvergnügen, sondern auf dem Rathausplatz.

Wer sich dort impfen lässt, bekommt von ihm persönlich eine Wurst obendrauf. Auch an eine vegetarische Alternative hat er gedacht. Vermutlich werden die Würste auch in Bobingen weggehen wie sonst wo die warmen Semmeln.

"Bratwurst-Impfen" ist in Deutschland der Überraschungshit des Sommers. Den Ursprung dieser Idee, die mehr Menschen zur Spritze gegen Corona bringen soll, findet man im thüringischen Städtchen Sonneberg, wo eine derartige Aktion großes Aufsehen erregte.

Wer sich in der vergangenen Woche den Schutz gegen Corona holte, bekam die Wurst – die in Thüringen mit Brötchen, Senf oder Ketchup quasi zu den Grundnahrungsmitteln gehört – gratis dazu.

Überraschender Andrang

Der Ansturm war groß, die Menschen standen teilweise Schlange. Normalerweise kommen täglich 140 Leute zur Impfung, am Wurst-Freitag waren es mehr als 400. "Das hat uns selbst auch ein bisschen überrascht", heißt es bei der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen. Aber zufrieden ist man natürlich.

Das mediale Echo war enorm, und nun ist die Bratwurst sprichwörtlich in vieler Munde. Auch im sächsischen Aue wurde sie Impfwilligen schon zuhauf spendiert. "Wir wollen das Impfen zu den Menschen bringen und so mithelfen, die Impfquote zu steigern", sagt Oberbürgermeister Heinrich Kohl (CDU).

Die Quote nämlich bereitet der deutschen Regierung Sorgen. Derzeit sind 54 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft, 62 Prozent haben mindestens eine Impfung erhalten. "Das ist gut, aber es reicht noch nicht für einen sicheren Herbst und Winter", sagt der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

Um die bisher nicht Geimpften an die Spritzen zu treiben, droht er diesen mit Einschränkungen. Nur noch Geimpfte und jene, die ihre Tests selbst zahlen, sollen in Discos, Stadien oder Theater dürfen.

Niemanden ausschließen

Dagegen regt sich allerdings Widerstand in der SPD. "Niemand soll vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden", wettert Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke. Und Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, warnt: "Drohungen bringen uns da nicht weiter. Wir müssen überzeugen." Auch Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz setzt mehr auf Bratwurst denn auf Druck. Er lobte "lebensnahe Angebote" und teilte auf Twitter ein Foto, das ihn genüsslich bei der Wurstvertilgung zeigt.

Überhaupt geht es im Netz unter dem Hashtag #Bratwurst hoch her. Einerseits herrscht Fassungslosigkeit darüber, mit welch simplen Methoden man Menschen offenbar steuern kann: "Stell dir vor, du bist Topvirologe an der Charité Berlin und leistest seit Monaten Aufklärungsarbeit zum Thema Impfungen, aber am Ende werden die Menschen durch eine Bratwurst überzeugt", twittert einer.

Andere machen sich darüber lustig, dass die Inhaltsstoffe einer Thüringer Bratwurst vielleicht schädlicher seien als der Impfstoff selbst. Oder stellen sich die Frage, ob sich "Erwachsene nicht ein bisschen komisch vorkommen, wenn man ihnen eine Bratwurst vorhalten muss, damit sie sich impfen lassen".

Den Politikberater Erik Flügge regt das ziemlich auf, er findet es arrogant. Er organisiert Prozesse für Bürgerbeteiligungen und steht oft vor der Frage: Wie schafft man es, Menschen zu aktivieren? Er sagt: "Entscheidungsprozesse laufen bei armen Leuten ganz anders ab als in der bürgerlichen Mitte."

Die Kinder versorgen

Nun sollte man natürlich nicht unterstellen, dass nur Arme nach den Bratwürsten greifen. Doch gerade für sie kann eine Wurst ein Anreiz zum Impfen sein. Flügge: "Wichtige Überlegungen für Eltern mit sehr wenig Geld sind: Wie bekomme ich die Kinder versorgt, und wo kann ich ihnen etwas bieten?" Eine kostenlose Bratwurst ist für viele eine stimmige Antwort, das Impfen nimmt man dann gleich mit.

Auch Heike Klüver, Professorin für Politisches Verhalten im Vergleich an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat der Erfolg der Aktion nicht überrascht. "Es muss nicht unbedingt eine Bratwurst als Draufgabe sein. Aber grundsätzlich sehen wir in unseren Forschungen, dass ein zusätzlicher Benefit Menschen in ihren Entscheidungen positiv beeinflusst."

Sie hat mit einem Forscherteam 20.500 Personen in ganz Deutschland befragt, um herauszufinden, was sie dazu animiert, die Ärmel für die Spritze hochzukrempeln. Das Ergebnis: Während man mit der Impfung beim oft vertrauten Hausarzt vor allem ältere Menschen überzeugen kann, ist die Rückgabe von Freiheitsrechten vor allem bei den Jüngeren aussichtsreich. Ein Piks für die Party! Das wirkt.

Nicht knausern

"Wir haben auch gesehen, dass finanzielle Anreize sinnvoll sind", sagt Klüver. Allerdings darf man hier nicht allzu knausrig sein. Für 25 Euro, so die Studie, würde sich kaum jemand impfen lassen, bei 50 Euro käme man hingegen mit vielen ins Geschäft. Dies zieht sich sogar durch alle Einkommensschichten, selbst finanziell Bessergestellte würden sich bei 50 Euro umstimmen lassen.

Dass Ältere lieber zum Hausarzt gehen, erklärt Klüver mit "verringerten Transaktionskosten". Sie brauchen sich nicht in ein weit entferntes Impfzentrum aufmachen. Bezogen auf jüngere Menschen bedeutet das: "Man muss ihnen das Impfen so einfach wie möglich machen." Die Impfung sollte zu ihnen kommen, nicht umgekehrt.

Von diesem Rat lassen sich immer mehr Kommunen leiten. In Magdeburg wird bei Lidl und Aldi geimpft, im nordrhein-westfälischen Olpe bei McDonald’s, Burger inklusive. Wer in Heubach (Baden-Württemberg) ohne Anmeldung bei Lidl zum Impfen erscheint, bekommt noch ein Sixpack "Brauspezialität" dazu. In Köln gibt es den Stich in der Zentralmoschee.

Ohne Bürokratie

Und bei Ikea kann man ja auch immer irgendetwas brauchen. Bei Marlies Köhler etwa fehlen gerade Servietten. Und für ihre einjährige Tochter möchte sie ein neues Kästchen kaufen. Ganz nebenbei hat sich die 31-Jährige im Möbelhaus Berlin-Tempelhof auch noch gegen Corona impfen lassen. "Das ging superschnell, ein Mitarbeiter der Impfstelle hat inzwischen auf meine Tochter aufgepasst", sagt sie.

Nach dem Stich wartet Köhler mit anderen Geimpften noch kurz auf einem Plastikstuhl auf dem Parkplatz. Da sie keinerlei akute Impfreaktionen zeigt, kann sie ziemlich schnell rein zum Shoppen. Impfen bei Ikea findet sie gut: "Das ist unkompliziert, man muss sich nicht anmelden, alles völlig easy."

Der 46-jährige Mike braucht den "ganzen Ikea-Kram nicht". Er ist nur vorbeigekommen, um sich impfen zu lassen. "Ich wohne nicht weit weg und hab keinen Hausarzt, da wusste ich bisher nicht, wohin ich gehen soll." Vom Impfzentrum hat er zwar schon gehört. Aber: "Das war mir mit der Anmeldung zu mühsam."

Dass mobile Impfteams jetzt immer stärker raus zu den Leuten gehen, begrüßt der Soziologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge. "So erreicht man jene, die Behörden gegenüber – oft aus eigener schlechter Erfahrung – ein tiefes Misstrauen haben." Sie würden von Impfzentren eher Abstand halten.

Nicht so prickelnd hingegen findet Butterwegge das Bratwurstangebot: "Es ist zynisch, Menschen mit einer billigen, fetten Wurst zu locken. Da sollte man lieber Einkaufsgutscheine geben." (Birgit Baumann aus Berlin, 7.8.2021)