Fünfkämpferin Annika Schleu brachte ihr Pferd nicht dazu, den Parcours zu reiten.

Foto: EPA/Zenkovich

Die Deutsche brach in Tränen aus: "Ich werde wahrscheinlich noch eine Weile brauchen, um drüber hinwegzukommen."

Foto: Imago/Sven Simon

Tokio – Verstörende Bilder um die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu im olympischen Reit-Parcours haben eine heftig geführte Debatte über die Sportart ausgelöst. Dass die sichtlich überforderte Deutsche am Ende ihres Gold-Traums verzweifelt mit der Gerte auf das verängstigte Pferd schlug, sorgte für massive Kritik.

"Hau mal richtig drauf!"

Tränenüberströmt saß Schleu im Tokyo Stadium auf ihrem zugelosten Pferd Saint Boy, das mehrfach verweigert hatte. Dennoch war es der 31-Jährigen, die nach ihrer Führung alle Gold-Chancen einbüßte und am Ende 31. wurde, nicht möglich, das Pferd zu wechseln. "Wenn man das sieht, mag man denken, dass das immer so läuft. Die Erfolge, die wir sonst zwischendurch feiern, sprechen dagegen", sagte Schleu zu ihrem Einsatz der Gerte. "Eigentlich sind wir Deutsche als gute und solide und auch einfühlsame Reiter bekannt."

Für Kritik sorgte auch der Auftritt von Bundestrainerin Kim Raisner. "Hau mal richtig drauf! Hau drauf!", rief sie – im Fernsehen deutlich hörbar – Schleu zu. Die deutsche Trainerin wurde vom Weltverband der Modernen Fünfkämpfer (UIPM) für den weiteren Verlauf der Olympia-Konkurrenz ausgeschlossen, sie erhielt die Schwarze Karte. Videoaufnahmen hätten gezeigt, dass Raisner das Pferd Schleus geschlagen habe, begründete der UIPM-Vorstand die Sanktion. Laut dem Deutschen Olympischen Sportbund (Dosb) werde sie im samstägigen Bewerb der Männer "keine Aufgabe übernehmen".

Kritik am System

Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth kritisierte den Einsatz von Pferden im Modernen Fünfkampf scharf. "Das hat mit Reitsport nichts zu tun, wie wir ihn betreiben und kennen", sagte die erfolgreichste Reiterin der Welt. "Das ganze System muss geändert werden." Das Pferd tue ihr leid, betonte die siebenfache Olympiasiegerin. Die Tiere seien im Fünfkampf "nur ein Transportmittel". Ihr tue aber auch "das Mädchen leid", die Opfer des Systems ihrer Sportart sei, betonte Werth.

Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) und der Dosb sehen das Problem vor allem beim Weltverband. "Als Fachverband für den Pferdesport sehen wir die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch", sagte FN-Sportchef Dennis Peiler. "Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten." Das Reglement müsse so gestaltet sein, dass Reiter und Pferd geschützt würden.

Dieser Einschätzung schloss sich auch der Dosb an. "Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern", hieß es in einer Stellungnahme. Es müsse so umgestaltet werden, "dass es Pferd und Reiter schützt. Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen." "Das internationale Regelwerk bedarf dringend einer Überholung", sagte Dosb-Präsident Alfons Hörmann.

Hassnachrichten für Schleu

Schleu gab indes an, im Internet schon "diverse Hassnachrichten erhalten" zu haben, berichtete sie kurz nach dem Wettkampf. Die Vereinigung "Athleten Deutschland" bezeichnete diese "Anfeindungen und den teils offenen Hass" als "inakzeptabel". Man stehe an der Seite der Athletin Die Tierrechtsorganisation Peta forderte indes die Suspendierung von Schleu und Raisner und sprach von "Misshandlungen".

Anders als im Springreiten müssen die Sportlerinnen und Sportler im Fünfkampf mit einem zugelosten und vorher unbekannten Pferd in den Parcours. Der Veranstalter stellt die Tiere zur Verfügung. Sie haben dann im Wettkampf mehrere Reiterinnen und Reiter in kurzer Zeit nacheinander im Sattel. Vor dem Ritt haben die Sportlerinnen und Sportler nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Dies gelang Schleu mit Saint Boy gar nicht.

"Nicht ihre Schuld"

Dabei hatten sich die Probleme mit dem Pferd schon angedeutet. Saint Boy wollte wenige Minuten zuvor bei Gulnas Gubaidullina vom Team des Russischen Olympischen Komitees bereits nicht über die Hindernisse. Ein Tierarzt erklärte das Pferd dennoch für einsatzbereit, Schleu musste losreiten.

"Auf dem Abreiteplatz hat es funktioniert", berichtete die Olympia-Vierte von Rio. Keinen Fehler habe es gegeben. Doch im Parcours wollte das Pferd nicht mehr, und Schleu musste das schlechtestmögliche Resultat hinnehmen. Raisner sagte dazu: "Es ist nicht ihre Schuld. Das Pferd wollte immer nur zur Tür."

Weltverband verteidigt die Pferde

Klaus Schormann verteidigte die Pferde. Es gebe "keinen Grund für die Sportler, sich zu beschweren. Es liegt nur an den Athleten selbst, wenn sie in einigen Teilen des Wettkampfes nicht erfolgreich waren", sagte der deutsche Präsident des Weltverbandes (UIPM). Für ihn war beim Wettkampf "alles genial, alles super." Nachsatz des 75-Jährigen: "Vielleicht gab es ein paar Momente, von denen man sagen kann, dass sie nicht so schön waren, aber ich kann ihnen sagen: Die Pferde sind absolut ausgezeichnet."

Schleu hat indes "gar nicht mehr damit gerechnet, dass wir in den Parcours starten". Sie sei schon sehr verzweifelt gewesen. "Ich werde wahrscheinlich noch eine Weile brauchen, um drüber hinwegzukommen."

Für Schleu war im Frühjahr das Ziel Olympia noch fern. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und musste mehrere Wochen pausieren. Als harte und deprimierende Zeit beschrieb sie die damalige Phase. Schleu kämpfte sich zurück an die Spitze – mit einer Medaille wurde sie nach dem vierten Rang in Rio de Janeiro aber auch in Tokio nicht belohnt. (APA, red, sid, 7.8.2021)

Dieser Artikel wurde mehrmals aktualisiert, zuletzt um 10:02 Uhr.