"Jede falsche Bewegung" könne gefährlich werden, sagte Swetlana Tichanowskaja.

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Trotz der immer brutaleren Repressionen des Regimes in Belarus denken die demokratischen Kritiker von Machthaber Alexander Lukaschenko nicht ans Aufgeben. "Nun bedecken die Belarussen zwar ihre Gesichter aus Angst vor einer Verhaftung, aber sie versammeln sich weiterhin unter den untersagten weiß-rot-weißen Fahnen, um neue faire Wahlen zu fordern. Ihr Mut inspiriert", schreibt der enge Berater von Oppositionschefin Swetlana Tichanowskaja, Franak Wiacorka, anlässlich des morgigen Jahrestags der Präsidentenwahl in der ehemaligen Sowjetrepublik am 9. August 2020.

Danach war Lukaschenko trotz massiver Vorwürfe wegen Wahlfälschung zum Sieger erklärt worden. Monatelange Massenproteste ließ er mit Gewalt niederschlagen – bis sie abebbten. Bei den Demonstrationen gab es mehrere Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Festnahmen. Wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition verhängte die EU in den vergangenen Monaten bereits mehrfach Sanktionen.

Wiacorka lebt wie Tichanowskaja im Exil. Auch sie zog bereits am Sonntag Bilanz: Ein Jahr nach der Wahl hätten ihre Landsleute weltweit Angst vor den autoritären Behörden von Lukaschenko. "Im Moment kann sich niemand sicher fühlen, auch ich nicht", sagte Tichanowskaja der Deutschen Presse-Agentur. "Ich weiß nicht, wie lang der Arm des Regimes reicht."

Die Bürgerrechtlerin verwies unter anderem auf den Fall Witali Schischow, der kürzlich in der Ukraine tot aufgefunden wurde. Auch der Fall der belarussischen Olympia-Sportlerin Kristina Timanowskaja habe gezeigt, dass jeder Lukaschenkos "Repressionsapparat" zum Opfer fallen könne. Die Leichtathletin, die eigener Darstellung zufolge wegen Kritik an belarussischen Sportfunktionären von den Olympischen Spielen in Tokio entführt werden sollte, habe sich schließlich nicht einmal an Demonstrationen beteiligt. "Jede falsche Bewegung oder offene Äußerung – auch wenn sie nicht politisch ist – kann zu einer Festnahme und einer Gefängnisstrafe führen", sagte die 38-Jährige.

Aus dem Exil gegen Lukaschenko

Tichanowskaja war vor einem Jahr als Oppositionsführerin im Trio mit Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa international bekannt geworden. Die frühere Englischlehrerin war als Präsidentschaftskandidatin anstelle ihres inhaftierten Ehemanns Sergej Tichanowski angetreten. Nach der weithin als gefälscht geltenden Abstimmung am 9. August 2020 floh sie ins EU-Land Litauen. Auch Zepkalo flüchtete. Kolesnikowa wurde verhaftet und steht derzeit in Minsk vor Gericht. Ihr drohen bis zu zwölf Jahre Haft.

Tichanowskaja kämpft aus dem Exil heraus weiter für die belarussische Demokratiebewegung. Bei einer Amerika-Reise wurde sie kürzlich auch von US-Präsident Joe Biden empfangen. Solche Treffen mit Staats- und Regierungschefs seien sehr wichtig, damit die Ex-Sowjetrepublik nicht von der Tagesordnung verschwinde und verloren gegangene diplomatische Beziehungen wieder aufgebaut würden, meinte Tichanowskaja. Sie unterstrich einmal mehr die Bedeutung westlicher Sanktionen gegen Belarus. Die Strafmaßnahmen seien aber nach wie vor lückenhaft, mahnte sie.

EU-Sanktionen gegen Belarus

Die EU erkennt Lukaschenko nicht mehr als Präsidenten an und hat zum Jahrestag seiner als gefälscht kritisierten Wiederwahl zusätzliche Sanktionen angedroht. "Die EU ist bereit, angesichts der eklatanten Missachtung internationaler Verpflichtungen durch das Regime weitere Maßnahmen in Erwägung zu ziehen", erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Sonntag im Namen der 27 Mitgliedstaaten.

Zuletzt gab es nach der Festnahme des regierungskritischen Bloggers Roman Protassewitsch auch Wirtschaftssanktionen. Behörden in Belarus hatten eine europäische Passagiermaschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius in Litauen zur Zwischenlandung in Minsk gezwungen, um den Lukaschenko-Kritiker verhaften zu können. Die EU forderte zudem die Freilassung von mehr als 600 politischen Gefangenen sowie freie und faire Wahlen. Auch die USA, Kanada und Großbritannien beschlossen Strafmaßnahmen. Russland hingegen unterstützt Lukaschenko mit Milliardenkrediten.

Kein Recht aufzuhören

"Wir waren auf eine solche Brutalität des Regimes nicht vorbereitet", sagte Tichanowskaja mit Blick auf die mittlerweile abgeebbten Proteste in Belarus. Letztendlich offenbarten staatliche Gewalt und Repressionen aber vor allem "die Schwäche des Regimes, aber nicht seine Stärke". Rückblickend zieht die Oppositionsführerin dennoch auch ein hoffnungsvolles Fazit: Die belarussische Zivilgesellschaft sei in den vergangenen zwölf Monaten stärker geworden, die Menschen politischer, betonte sie.

Ob sie selbst manchmal ans Aufgeben denke? Nein. "Es ist sehr schwer", gab Tichanowskaja zu. Doch: "Denjenigen im Gefängnis geht es noch schlechter", sagte sie mit Blick auf die vielen politischen Gefangenen. "Da hast du einfach nicht das Recht aufzuhören." (fmo, APA, 8.8.2021)