Als bei der Präsidentschaftswahl in Belarus vor einem Jahr Sergej Tichanowski die Kandidatur verwehrt wurde, trat seine Frau Swetlana Tichanowskaja an und wurde zu einer der Integrationsfiguren der belarussischen Opposition. Nach der Wahl erklärte sich der langjährige Diktator Alexander Lukaschenko zum Sieger, Proteste ließ er mit aller Härte unterdrücken und Kritiker inhaftieren. Tichanowskaja ist nach Litauen geflohen, wo sie aus dem Exil weiter für die Demokratie in ihrem Land kämpft.

DER STANDARD veröffentlicht zusammen mit "Politiken" (Dänemark), "Zeit Online" (Deutschland) und "Aftenposten" (Norwegen) einen Brief von Swetlana Tichanowskaja an Europa. Die polnische "Gazeta Wyborcza" schließt sich mit einem ähnlichen Text an. Tichanowskaja bittet vor allem um anhaltende internationale Unterstützung. Denn was in ihrem Land passiere, werde mit über Europas Erfolg in der Zukunft entscheiden.

Mein Mann wird nur frei sein, seine Kinder sehen und umarmen können, wenn Belarus frei ist. Was für ein seltsamer und schwieriger Satz, den man schreiben muss. Die Stabilität und das Wohlergehen meiner Familie sind verflochten mit der Demokratie und Freiheit meines geliebten Belarus. Seit der Inhaftierung meines Mannes vor mehr als einem Jahr sind so viele weitere Familien ähnlichen unerträglichen Situationen und Einschüchterungen durch das Regime ausgesetzt. Es ist immer noch schwer, das zu glauben.

Schriftlich ist es schwierig auszudrücken, wie sich das anfühlt. Sie müssen sich in diese Situation hineinversetzen. Stellen Sie sich vor, Ihre Regierung inhaftiert Sie, bedroht Sie und Ihre Familie, schüchtert Ihre Freunde und Kollegen ein, um Sie zum Schweigen zu bringen und unsichtbar zu machen – ohne jede Rechtfertigung. Nicht bloß einmal, sondern wieder und wieder über Jahre hinweg.

Wenn Sie fühlen können, wie der Schrecken in Ihrer Brust hochsteigt, können Sie auch den Mut aufbringen, Ihre Unterdrücker anzusehen, und werden begreifen, wie groß deren Angst vor Veränderung ist.

Ich sehe jeden Tag, wie weitere Menschen für ihre Überzeugungen und politischen Haltungen inhaftiert werden. Das sind nicht nur Personen, die in der Öffentlichkeit stehen wie mein Mann Sergej Tichanowski oder meine Freundin Maria Kolesnikowa. In Belarus kann heute jeder zum politischen Gefangenen werden. Und das ist wirklich beängstigend. Ich bekomme das nur schwer aus meinem Kopf. Aber dann denke ich an den Mut der Belarussen, die für Freiheit und Demokratie aufstehen. Er ist so mächtig, und ich bin so stolz, diesen Aufbruch zu sehen. Er gibt mir täglich Hoffnung für meine Kinder, meinen Mann und unsere gemeinsame Zukunft.

Als ich gebeten wurde, diesen Artikel zu schreiben, schickte mir der Redakteur eine lange Liste von Fragen über mich. Ich möchte jedoch über uns schreiben. Nicht bloß uns, die Belarussen, sondern alle von uns.

Aufrichtiges Mitleid

Wenn Sie ein Video von einer Demonstration in Belarus sehen, dann werden auch Sie begreifen, dass so viel mehr passiert. Zwischen den Leuten gibt es so viele sinnvolle Diskussionen über die Zukunft und rechtsstaatliche Freiheiten. Dieselben Freiheiten, die in Europa schon so lange existieren.

Viele Belarussen wissen jetzt mehr über diese fundamentalen Freiheiten als einige Europäer, und sie wissen genau, was ihnen fehlt. Als das Regime die Raketen eines Kampfjets auf 120 europäische Bürger richtete, um den Ryanair-Piloten einzuschüchtern, damit es einen Journalisten festnehmen und seine Freundin als Geisel nehmen konnte, war die Welt schockiert. Ich habe aufrichtiges Mitleid mit all den Menschen an Bord dieses Fluges und darüber hinaus, die zu Schachfiguren für die Spiele des Regimes wurden.

Wenn das Regime willkürlich Menschen inhaftiert, europäische Länder, Bürger und die Mitarbeiter europäischer Firmen bedroht, ist die Tatsache, dass es dies tut, um die prominenten Freiheitskämpfer Roman und (seine Freundin) Sofia zu verhaften, nur eine Dimension. Es verhöhnt auch europäische Werte und Prinzipien. Sein Gespött untergräbt unsere gemeinsamen Werte und Rechte. Das Regime wird jede Schwäche Europas ausnutzen.

Ich wurde gefragt, was ich vom Westen erwarte. In gewissem Sinn erwarte ich, was wir alle voneinander erwarten können: Mitgefühl, Solidarität und Frieden. Es ist schwieriger, diese Worte so zu übertragen, dass sie im belarussischen Kontext eine Bedeutung haben.

Mitgefühl: Was in Belarus passiert, ist eine Tragödie. Vor vielen Jahren habe ich als Kind persönlich erlebt, wie die Europäer ihr Mitgefühl für die Betroffenen der Tschernobyl-Tragödie über viele Jahre in praktische Unterstützung für Familien und ihre Kinder übersetzt haben. Dieselbe Art von Wohlwollen wird jetzt dringend gebraucht. Bitte öffnen Sie Ihre Türen und Herzen für jene, die unter der Unterdrückung leiden. Es bedeutet mir und ihnen so viel.

Solidarität: Die demokratische Bewegung in Belarus richtet sich an den Werten und Prinzipien aus, die Europa stützen. Als Europa sichtbar bedroht war, als das Regime den Ryanair-Flug ins Visier nahm, haben Sie prompt kreativ reagiert und auf so viele Arten mehr als bloß mit Sanktionen Druck auf das Regime ausgeübt. Nur weil dieser Vorfall vorbei ist, hat sich aber nichts verändert. Das Regime wird weiter jede Gelegenheit nutzen, Europa zu untergraben, Schwächen auszunutzen und seine repressiven Taktiken zu exportieren. Europäische Länder und demokratische politische Bewegungen müssen kreativer, einheitlicher und kooperativer sein, mit einer sehr viel tieferen und langfristigeren Perspektive, um unsere gemeinsamen Interessen vor dieser Art Bedrohungen zu schützen.

Frieden schaffen: Erst vor wenigen Jahren wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis geehrt, weil sie in den vergangenen 50 Jahren den Frieden in Europa gesichert hat. In dieser Zeit hat es so viele friedliche Übergänge von Diktaturen und unterdrückerischen Regimen zu vollständig freien und offenen Demokratien gegeben, dass man das Gesicht Europas fast nicht mehr wiedererkennt. So viel ist erreicht worden, weil der richtige Weg gezeigt wurde. Ich zweifle nicht daran, dass ein friedlicher Übergang zur Demokratie auch in Belarus erreicht werden kann. Ich glaube nicht, dass Europa sich bloß auf den Lorbeeren ausruhen will. Aber es muss Mechanismen einrichten, die seine Werte fördern. Was in Belarus passiert, wird mit über Europas Erfolg in der Zukunft entscheiden.

Jeder kleine Akt ist wichtig

Wenn ich Belarussen treffe, überall auf der Welt, wird mir oft dieselbe Frage gestellt: "Ich bin bloß eine gewöhnliche Person. Was kann ich tun, um etwas zu verändern?" Ich antworte normalerweise, dass ich auch nur eine gewöhnliche Person sei und dass wir bereits so viel täten, jeder Einzelne von uns.

Jeder kleine Akt der Unterstützung sei wichtig: "Wenn wir alle tun, was wir können, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Wandel kommen wird", schreibt die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja.
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Jeder kleine Akt der Unterstützung ist wichtig: Briefe an die politischen Gefangenen schreiben, finanziell helfen, in den Medien über Belarus sprechen, die Führung Ihres Landes auf das Thema aufmerksam machen, die Propaganda des Regimes zurückweisen. Damit Belarus erfolgreich sein kann, ist internationale Unterstützung entscheidend.

Manchmal habe ich Zweifel, ob ich das Richtige tue. Manche wundern sich noch immer über die Frau, die viele Jahre nur Hausfrau war und dann die Wahl gewann. Lange habe ich selbst so über mich gedacht – ich war eine Mutter und eine Ehefrau. Mir ist wichtig, in der Zukunft meinen Kindern sagen zu können, dass ich alles getan habe, was ich konnte. Wenn wir alle tun, was wir können, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Wandel kommen wird. (Swetlana Tichanowskaja, 9.8.2021, Übersetzung: Carsten Luther)