Alexander Bastrykin, Chef des russischen "Ermittlungskomitees".

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Dem bekannten Moskauer Theater Sowremennik ("Zeitgenosse") droht gewaltiger Ärger: Alexander Bastrykin, Chef des "Ermittlungskomitees", hat seine Untergebenen angewiesen zu prüfen, ob die jüngste Premiere des Theaters, das Stück Erstes Brot, Kriegsveteranen beleidigt. Das ist beileibe keine Lappalie.

Bastrykin ist Vertrauter von Präsident Wladimir Putin, das speziell für ihn gebildete "Ermittlungskomitee" eine Art russisches Pendant zum FBI in den USA. Schon allein dieser Umstand verdeutlicht die Schwere des Verbrechens. Zumal die Duma erst im März die entsprechenden Gesetze verschärft hat, nachdem zuvor ein Moskauer Gericht den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wegen eines solchen Vorwurfs nur mit einer Geldstrafe hatte belegen können. Inzwischen drohen Übeltätern bis zu drei Jahre Haft.

Im Fall des Sowremennik richten sich der Ärger und die Klagen gleich mehrerer patriotischer Lobbyverbände speziell gegen eine Friedhofsszene. Dort spielt die Schauspielerin Lia Achedschakowa, unter anderem bekannt aus dem Oscar-prämierten Sowjetfilm Moskau glaubt den Tränen nicht, eine alte Frau, die am Grab ihres in Afghanistan gefallenen Mannes beklagt, dass ihr Enkel in den Krieg zieht.

Wut und Hilflosigkeit

In ihrer Wut und Hilflosigkeit beschimpft sie auch einen auf dem Friedhof ruhenden Weltkriegsveteranen, weil dessen Tod im Namen der Heimat eben keinen endgültigen Frieden gebracht hat und ein Krieg nach dem anderen in Russland Opfer in jeder Generation fordert.

Der Interessenverband der Sicherheitsorgane, "Offiziere Russlands", sah darin eine "höchste Respektlosigkeit gegenüber den Vaterlandsverteidigern". Nicht der einzige Vorwurf: Die "Veteranen Russlands" listen gleich eine Reihe von Anschuldigungen auf. Neben der Schändung des Kriegsgedenkens sind dies religiöse und nationale Hetze sowie Propaganda für "untraditionelle Werte" (im Stück kommt auch noch eine LGBTQ-Figur vor).

So fordern die Patrioten nicht nur die Absetzung des Stücks, sondern auch die des Intendanten Viktor Ryschakow sowie dessen strafrechtliche Verfolgung. Ob Erstes Brot in der kommenden Theatersaison ab Oktober noch einmal aufgeführt werden wird, wisse sie nicht, gesteht Achedschakowa. "Vielleicht sitze ich ja dann schon in U-Haft", so die 83-Jährige.

Der Ingenieur als Kulturexperte

Die Probleme für das Sowremennik weisen den Weg in die Zukunft. Der Beirat des Kulturministeriums will nach diesem Vorfall mittels einer Kommission das Repertoire aller russischen Theater durchleuchten. Das kündigte jedenfalls der Leiter des Beirats, Michail Lermontow, ein entfernter Verwandter des gleichnamigen Dichters aus dem 19. Jahrhundert, an. Die Kommission solle entscheiden, ob die Stücke "in Übereinstimmung mit der Strategie der nationalen Sicherheit" stehen, so der 67-Jährige.

Laut Lermontow geht es um die "Bewahrung der geistig-moralischen und patriotischen Werte". Im Gegensatz zu seinem Namensvetter ist der aktuelle "Held unserer Zeit" alles andere als obrigkeitskritisch. Der zum Ingenieur für Schweißtechnik ausgebildete Russe sattelte erst in den Nullerjahren auf Kultur um, um in politische Ämter zu gelangen, wo er sich mit staatstragenden Äußerungen profilierte. So auch diesmal: Er sehe es als Aufgabe des Beirats an, die "Rolle zivilgesellschaftlicher Kontrolleure zu übernehmen, nicht die eines Zensors, aber eines Kontrolleurs, der prüft, ob das Informationsmilieu den Parametern entspricht, die im Präsidentenerlass vorgegeben sind".

Geschichte wird kuratiert

Neben Lermontow haben sich noch andere Freiwillige für die Kommission beworben. Unter anderen soll dort der Stalin-Biograf Swjatoslaw Rybas sitzen, der sich erst jüngst in der Literaturnaja Gaseta über das Bolschoi-Theater in Moskau und das Mariinski-Theater in St. Petersburg echauffierte. Dort seien Anna Karenina und Krieg und Frieden verhunzt worden.

Auf anderen Gebieten ist die Zensur schon weiter. Der Kinofonds des Kulturministeriums finanziert fast ausschließlich Filme, die vor Patriotismus triefen oder konservative Wertvorstellungen lancieren. Und Ex-Kulturminister Wladimir Medinski leitet eine Kommission von Geheimdienstlern, die über die Geschichtsschreibung wacht. (André Ballin aus Moskau, 9.8.2021)