Die Historikerin Fatma Akay-Türker hat nicht nur die IGGÖ hinter sich gelassen. Sie sagt, nicht nur die Frauen, auch muslimische Jugendliche wollen andere Antworten als die traditionelle, patriarchale Lesart des Korans.

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Es war ein aufsehenerregender Schritt, den Fatma Akay-Türker am 6. Juni 2020 setzte: Sie trat als Frauenbeauftragte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) zurück. Damit verlor der Oberste Rat, dem 15 Männer angehörten, die einzige Frau. Akay-Türker begründete ihren Rückzug damit, dass die IGGÖ nur "Stillstand bewahren" wolle und die "Abwertung der Frauen institutionalisiert" habe. Akay-Türker hat danach die Geschichte ihrer Emanzipation im Buch "Nur vor Allah werfe ich mich nieder: Eine Muslimin kämpft gegen das Patriarchat" (Edition a, 2021) erzählt. Wie weit ist sie damit gekommen? Was hat sich verändert – in der IGGÖ, in ihrem Leben?

STANDARD: Seit Ihrem Rücktritt aus der IGGÖ sind 14 Monate vergangen. Wir haben damals für den STANDARD miteinander gesprochen, jetzt wieder: Was ist seither passiert?

Akay-Türker: "Stillstand bewahren" ist immer noch Programm der IGGÖ. Es gab keine Reaktion von dort, auch nicht auf mein Buch. Auch in der Zeit, als ich dort war, wurden bestehende Probleme totgeschwiegen. Sie beharren auf ihrer patriarchalen, traditionellen Lehre. Aus der Bevölkerung, aus der muslimischen Community, aber auch von IGGÖ-Funktionären bekam ich hingegen sehr viel Zuspruch. Es gibt viele muslimische Menschen, die für Veränderung stehen und falsch gelebte Tradition und Strukturen kritisieren. Ich habe es nur ein bisschen lauter angesprochen.

STANDARD: Die IGGÖ hat allerdings im März 2021 ein neues "Referat für Gleichbehandlung und Frauenförderung" konstituiert, für das ein paar Männer ihren Sitz räumen mussten. Sehen Sie darin einen Schritt, der der von Ihnen kritisierten "institutionalisierten Abwertung der Frauen" in der IGGÖ entgegenwirken kann?

Akay-Türker: Meiner Meinung nach hat sich inhaltlich nichts geändert. Das stimmt mich traurig. Denn ich bin nicht zurückgetreten, nur damit ein paar Frauen die Vitrine schmücken, sondern um auf gesamtgesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen. Das Problem ist nicht, dass Frauen dort Sitze, sondern wirklich Mitspracherecht und Entscheidungsbefugnisse haben und Veränderungen bewirken können. Sie haben Frauen ausgesucht, die ihr System aufrechterhalten. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre und sie sich doch für andere Frauen einsetzen und das System ändern. Aber dafür müssen sie es erst wollen.

STANDARD: Sie haben damals auch Ihren "Brotberuf" als islamische Religionslehrerin der IGGÖ an Gymnasien in Niederösterreich gekündigt. Wie teuer kam Sie dieser Schritt zu stehen?

Akay-Türker: Ich bin noch immer arbeitslos – und wurde von niemandem finanziert, wie einige zu behaupten wagen. Dennoch bereue ich meinen Schritt nicht. Er war richtig.

STANDARD: Und dann haben Sie ein Buch geschrieben.

Akay-Türker: Es sollte auf ein strukturelles Problem hinweisen, das durch die IGGÖ verkörpert wird, und zugleich eine Tür der Hoffnung öffnen. Ein stiller Rückzug, wie ihn viele Frauen seit langem machen, hätte niemandem geholfen. Nicht den Frauen, die seit Jahrhunderten unter dem Patriarchat leiden, nicht den österreichischen Muslimen, die unter der falsch gelebten islamischen Tradition leiden, nicht den Jugendlichen, die eine neue Lesart des Korans brauchen und ihre alltäglichen und geistigen Fragen beantworten möchten.

STANDARD: Sie erzählen darin Ihre persönliche Geschichte der Emanzipation von Religion und Tradition: Sie wurden mit 13 von Ihren Eltern aus Anatolien nach Österreich geholt, mit 17 beim Heimaturlaub in der Türkei zwangsverheiratet ("Ich schwieg, und das bedeutete Zustimmung ... Ich hatte mich für meine Familie geopfert"), bekamen früh zwei Söhne, ließen sich nach zwölf Jahren scheiden und leben jetzt in zweiter Ehe, aus der zwei Töchter stammen. Sie haben Turkologie studiert, sind promovierte Historikerin, unterrichteten Islam und stehen mit Ihrem laufenden Theologiestudium knapp vor der Dissertation. Wieso haben Sie Ihren biografischen Hintergrund jetzt ausgeleuchtet?

Akay-Türker: Emanzipiert war ich sowieso, aber nach meinem Rücktritt fühlte ich mich erleichtert. Ich musste mich nicht mehr für die IGGÖ schämen, weil ich nicht mehr mitverantwortlich war. Zu meiner ersten Ehe will ich sagen: Ich war nicht zwangsverheiratet. Es war eine arrangierte Ehe. Ich hatte eine Möglichkeit zum Exit, die ich vielleicht erst später genutzt habe als andere. Leider vermischen sich bei dieser Frage Kultur und Religion oft. Ich wollte beleuchten, wie diese patriarchale Tradition auf das Leben von Frauen wirkt. Die Frauen halten mehr als die Männer an der Religion fest, weil sie in dieser Welt fast keine Chance haben, glücklich zu werden. Weil vielen Frauen das Leben im Diesseits schon zur Hölle gemacht wurde, erhoffen sie ein Glück im Paradies. Ich wollte gerade diesen Frauen vermitteln, was ich alles erlebt und wie ich mich emanzipiert habe. Dass es in der Religion keinen Zwang gibt und sie sehr wohl religiös und selbstbestimmt leben können. Da es im Islam keinen Klerus und keine hochgestellten Schichten gibt, braucht man auch keinen Führer. Der Islam ist eine Religion der Selbstverantwortung und niemand ist für jemand anderen verantwortlich. Niemand kann die Konsequenzen des Handelns eines anderen tragen. Gerade der Koran ermutigt die Frauen, für ihre eigene Rechte einzustehen. Ich sehe im Gesamtkonzept des Korans ein gerechtes und geschlechtergerechtes Bild.

STANDARD: Wie haben Sie sich aus dieser patriarchalen Unterdrückungssituation befreien können? War Ihnen der Koran dabei eine Hilfe?

Akay-Türker: Mein damaliges Leben war auch von der traditionellen Islamlehre geprägt. Wenn ich mich mit dem Koran ausgekannt hätte, hätte ich vieles nicht geduldet. "Schicksal" hat alles geheißen. Ich kam sehr spät darauf, was Schicksal wirklich ist. Wir muslimischen Frauen müssen uns mehr mit unseren Quellen auseinandersetzen und bisher beigebrachte "Normen" hinterfragen. Das gilt auch für muslimische Männer. Muslime müssen ihre Komfortzone verlassen und sich reflektierend mit islamischen Quellen auseinandersetzen. Ich deute die Offenbarung als frauenfreundlich, während das Patriarchat die Offenbarung zum Bewahren der Machtverhältnisse missbraucht. Wenn die Muslime darauf kämen, dass es durchaus andere Deutungen gibt und die patriarchale Lesart nur eine Lesart für andere Zeiten war, könnten wir einen gesünderen und offeneren Diskurs haben.

STANDARD: In der Ankündigung für Ihr Buch heißt es, Sie schreiben, "was wirklich über Frauen im Koran steht und warum gerade das ein modernes emanzipiertes Frauenbild rechtfertigt". Wie lautet eine ganz kompakte Antwort auf diese Frage?

Akay-Türker: Der Koran hat alle Missstände über Frauen erhoben. In meinem Buch habe ich diese Themen beschrieben. Ein Beispiel dafür wäre das Wahlrecht, welches die Frauen in Europa 150 Jahre lang erkämpfen mussten. Darüber spricht Allah im Koran und verleiht den Frauen Wahlrecht im engeren Sinne. Als ich diesen Vers gelesen habe, sind mir Tränen gekommen. Ich dachte mir, warum hat uns das bis jetzt niemand erzählt? Aber warum sollten die Männer uns das erzählen? Das ist nur eine der vielen Diskrepanzen zwischen der Tradition und dem Koran.

STANDARD: Sie kämpfen gegen das Patriarchat. Aber letztlich sind doch eigentlich alle monotheistischen Religionen – Christentum, Judentum und Islam – patriarchal organisiert, sie haben einen männlichen Gott und weisen den Frauen hintere oder untergeordnete oder jedenfalls dienende Plätze in der Religion, in den Kirchen und Organisationen zu?

Akay-Türker: Ein "männlicher Gott" ist nur eine Frage des Sprachgebrauchs. Auf Türkisch ist es zum Beispiel nicht so, weil es im Türkischen keinen Artikel gibt. Auch wenn es im Arabischen Artikel gibt, geht niemand davon aus, dass Gott männlich ist. Gott hat kein Geschlecht. Gott können keine menschlichen Attribute zugeschrieben werden. Gott selbst kämpft mit dem Patriarchat und spricht die Frau als Individuum an. Gott hebt die Würde und das Ethische in Menschen hervor.

STANDARD: Ist es nicht an sich schon problematisch, wenn eine Religion, ein Gott, welcher auch immer, verlangt, dass sich jemand vor ihm "niederwirft"? Wäre nicht ein Leben jenseits von Religion, das von Vernunft statt Glauben geleitet wird, ohne Unterwerfung, grundsätzlich freier und selbstbestimmter?

Akay-Türker: Für mich ist es eine Ehre, mich vor Gott niederzuwerfen statt vor von Gott erschaffenen Menschen. Vernunft kommt im Koran öfter vor als Gottesdienste. Wir sollten Gott gegenüber, der uns erschaffen und mit Vernunft, Seele, Gewissen und freiem Willen ausgestattet hat, nicht undankbar sein. Ein Mensch ist erst mündig, wenn er seine Vernunft ins Spiel bringen kann. Auch die Religion Islam hebt die Vernunft hervor. Ohne Vernunft, keine Mündigkeit. So gesehen bildet Vernunft die Basis des Glaubens. Außerdem: Wer kann behaupten, dass ein Leben ohne Religion freier und selbstbestimmter ist? Ich habe mich zum Beispiel gegen Covid impfen lassen, damit ich mich "freier" bewegen kann.

STANDARD: Ein Thema, das bei Ihrem Rücktritt auch groß besprochen wurde, war, dass Sie ursprünglich von der Türkischen Föderation, dem Moscheeverband der rechtsextremen MHP ("Graue Wölfe"), für den Obersten Rat der IGGÖ nominiert worden waren. Auch diese Verbindung haben Sie gekappt. Warum?

Akay-Türker: Auch dieses Thema habe ich in meinem Buch aufgegriffen. Mir ging und geht es nie um Außenpolitik oder irgendwelche Verbände, sondern um Frauen, über deren Stellung im Islam ich seit Jahren arbeite. Letztendlich stimmte ich dem Angebot der Türkischen Föderation zu, weil es um die offizielle Vertretung aller Muslime in Österreich ging und weil ich als Frauenbeauftragte nominiert wurde. Ich hielt die Föderation damals für liberal und säkular. Grundsätzlich dachte ich damals bei meinem Eintritt in die IGGÖ, wenn irgendwo eine Veränderung beginnen müsste, dann dort. Ich fühlte mich in der Pflicht, mitzuwirken, damit der Reformprozess endlich in Schwung kommt. Als ich sah, dass das unmöglich war bzw. niemand daran interessiert ist, bin ich nach 18 Monaten zurückgetreten.

STANDARD: Apropos Händeschütteln: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie selbst Ihnen von hochrangigen Männern in der IGGÖ der Handschlag verweigert wurde. Das kennen zum Beispiel auch Lehrerinnen oder Direktorinnen in Schulen, dass muslimische Väter ihnen den Handschlag verwehren. Wie sollen sie, wie soll die sogenannte Mehrheitsgesellschaft damit umgehen, die darin ja offenkundig zurecht eine religiös begründete Geringschätzung von Frauen sieht? Was ist Ihre Botschaft an Muslime, die sich so verhalten? Ist das ein Zeichen für gescheiterte oder verweigerte Integration?

Akay-Türker: Ich habe extra ein Kapitel geschrieben, dass es dazu weder einen Vers im Koran noch eine Überlieferung des Propheten Muhammed gibt. Dennoch ist eine Tradition entstanden, die meiner Meinung nach und auch aus Sicht vieler muslimischer Frauen als Geringschätzung der Frauen interpretiert werden kann. Dafür sorgen sogenannte "fromme Männer", die sich beliebig verhalten können und dennoch den muslimischen Frauen ein Gefühl des ehrenlosen Handelns oder der Sündhaftigkeit geben. In meiner Überzeugung ist das Händeschütteln eine Begrüßungsart, mit der kein Gläubigkeitsgrad gemessen werden kann. Ich möchte an meine muslimischen Geschwister appellieren, nicht zu verbieten, was Gott nicht verboten hat, und keine unnötigen Verbote zu konstruieren. Das Leben ist schwer genug. In dieser Pandemiezeit möchte ich aber dennoch allen nahe legen, sich gegen die Viren zu schützen, Masken zu tragen, Abstand zu halten und die Hände öfter zu waschen.

STANDARD: Es gibt auch eine äußerliche Veränderung. Auf dem Foto sehen wir Sie nicht mehr mit dem klassischen Kopftuch, sondern mit einer modischen Adaption. Ist das mehr als nur Mode, nämlich ein bewusster feministischer Selbstermächtigungsakt, das alte Kopftuch abzulegen? Was leiten Sie aus dieser persönlichen Erfahrung für die Kopftuchfrage ab, die in der politischen Debatte eine große Rolle spielt, auch für die IGGÖ und politische Aktivistinnen, die es tragen und forcieren?

Akay-Türker: Ich habe die Kopftuchdebatte so satt. Es kommt mir so vor, dass nicht nur die Frauen, sondern sogar der Islam auf das Kopftuch reduziert wird. Das darf nicht sein. Der Islam ist keine Symbolreligion. Wir haben sehr viele Werte, die vernachlässigt wurden. Ich wünsche mir eine Wertedebatte statt der Kopftuchdebatte. In der IGGÖ erlebte ich, dass die Männer, wenn es um Frauen ging, nur für das Kopftuch gekämpft haben, während ich jedes Mal, wenn ich über Frauenrechte im Koran sprach, ermahnt wurde, dass mir nicht zustehe, über den Islam zu sprechen. Wenn ich mir heute das Gesamtkonzept des Korans anschaue, ist das Kopftuch für mich nur noch ein kleines Detail. Das zu tragen war und ist meine Entscheidung, und wenn ich es nicht tragen möchte, ist es auch meine Entscheidung.

STANDARD: Welchen Rat würden Sie jungen muslimischen Frauen, die auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben sind, geben?

Akay-Türker: Den Islam kann man sehr wohl frei und selbstbestimmt leben, weil jeder nur für sich selbst verantwortlich ist. Sie sollen sich nicht einschüchtern lassen und nicht auf ihre eigene Persönlichkeit verzichten. Gott ist Allerbarmer und hat uns, den Frauen, sehr viele Rechte, Kraft und Macht verliehen. Sie sollen sich nicht auf die geringe Barmherzigkeit der Männer verlassen. Es soll ihnen auch bewusst sein, wenn sie nicht selbst für ihre Rechte kämpfen, dann können sie noch tausend Jahre auf die Gnade der Männer warten. Ich rate ihnen: Wartet nicht auf die Gnade der Männer! Meine Dankbarkeit gilt nur Gott und sonst niemandem. (Lisa Nimmervoll, 9.8.2021)