Das Land Tirol behauptet, dass Personen, die am Jugendamt arbeiten, einvernehmliche Intim- und Liebesbeziehungen im Privaten mit Erwachsenen zwischen 18 und 21 Jahren gar nicht oder nur mit Zustimmung ihrer Vorgesetzten haben dürfen. Halten sie sich nicht daran, sei es gerechtfertigt, das Dienstverhältnis zu beenden. Das Oberlandesgericht Innsbruck hält das für plausibel.

Erpressbar durch Homosexualität?

Peter Z.* ist HIV-positiv und wurde 2012 von der Staatsanwaltschaft Wien wegen der Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten (§ 178 StGB) und versuchter Körperverletzung (§ 84 StGB) angeklagt, weil er mit einem anderen Mann Oralverkehr ohne Samenerguss in den Mund hatte. Diese Anklage fußte auf der Anzeige seines ehemaligen Partners. Da Oralverkehr ohne Ejakulation exakt den staatlich propagierten HIV-Safer-Sex-Regeln entspricht, wurde der Mann freigesprochen. Die Richterin attestierte ihm ausdrücklich, sich völlig richtig verhalten zu haben. Dennoch erhielt der unschuldige Angeklagte nur sechs Prozent seiner Verteidigungskosten ersetzt.

Sein Ex-Partner verfolgte ihn weiter. Unter anderem schrieb er an den Arbeitgeber seines früheren Partners, das Land Tirol, Briefe, in denen er die unhaltbaren Anschuldigungen wiederholte und ihn als HIV-positiv und homosexuell outete. Der Mann (Sozialarbeiter an einem Tiroler Jugendamt) wurde zu seinem Vorgesetzten zitiert, wo HIV und das Strafverfahren als auch die Homosexualität Thema waren. Der Vorgesetzte meinte, der Dienstnehmer hätte bei seiner Einstellung seine Homosexualität und die HIV-Infektion bekanntgeben müssen. Er sei als HIV-positiver Homosexueller erpressbar, und es sei für ihn daher wohl besser, wenn er sich nach einer anderen Stelle umsieht. Wenige Tage später hat der Arbeitgeber, das Land Tirol, das Dienstverhältnis aufgelöst.

Gestalkt, zwangsgeoutet und gekündigt

Im darauf durchgeführten Schlichtungsgespräch vor der Gleichbehandlungsbeauftragten des Landes Tirol begründete das Land Tirol die Auflösung ausschließlich damit, dass der Dienstnehmer bei seiner Einstellung das Strafverfahren nicht angegeben hatte, obwohl er nach Strafverfahren nicht gefragt worden war, sondern nach Verurteilungen, obwohl er (lange vor dem Einstellungsgespräch) wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde und obwohl ihn die Anklage und das Strafverfahren aufgrund seines HIV-Status massiv diskriminiert hatten. Eine Entschuldigung wurde ebenso abgelehnt wie Schadenersatz. Der Landeshauptmann lehnte jeden Vergleich kategorisch ab. Der gekündigte Dienstnehmer hat daher das Land Tirol geklagt.

Nach zwei Jahren hat das Landesgericht Innsbruck das Land Tirol wegen schwerer Mehrfachdiskriminierung verurteilt (LG Innsbruck 30.12.2015, 45 Cga 122/13d), gemäß dem Tiroler Landes-Gleichbehandlungsgesetz dem Mann über 35.000 Euro (an Entschädigung für Diskriminierung, Verdienstentgang und Anwaltskosten) sofort sowie lebenslang den Unterschied zwischen seinem jeweils möglichen Einkommen (einschließlich Pension) und jenem Verdienst (Pension) zu bezahlen, den er bei einer üblichen Karriere beim Land Tirol erzielt hätte.

Weil das Land Tirol die fehlende Einvernahme weiterer Zeugen bemängelte, hat das Oberlandesgericht Innsbruck 2017 (unanfechtbar) der Berufung des Landes stattgegeben und dem Landesgericht aufgetragen, diese Zeugen zu hören.

Liebes- und Sexverbot zwischen Erwachsenen beim Land Tirol?
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Liebesverbot im dritten Rechtsgang

Das Land Tirol nutzte den zweiten Rechtsgang dazu, dem Gericht, nach Anwaltswechsel, nun eine völlig neue Rechtfertigung zu präsentieren. Das Dienstverhältnis sei aufgelöst worden, weil der Sozialarbeiter (vier Jahre vor seiner Einstellung) im Privaten, als damals 33-Jähriger, eine intime Beziehung mit einem 20-jährigen Mann eingegangen war. Es sei nämlich, so das Land Tirol, in der Sozialpädagogik und Jugendsozialarbeit national und international Standard, dass Personen, die am Jugendamt arbeiten, einvernehmliche Intim- und Liebesbeziehungen im Privaten mit Erwachsenen zwischen 18 und 21 Jahren gar nicht oder nur mit Zustimmung ihrer Vorgesetzten haben dürfen.

Für diese Behauptung konnte das Land Tirol keinen einzigen Beleg vorlegen. Kein einziges Schriftstück, keine einzige Richtlinie, keine einzige Verhaltensregel und keine einzige Ausbildungsunterlage oder Ähnliches, das einen derartigen Standard belegt hätte. Weder aus dem internationalen noch aus dem nationalen Bereich, ja nicht einmal aus dem Bereich der eigenen Tiroler Kinder- und Jugendhilfe. Nur die bloße Behauptung der eigenen Zeugen aus der Landesverwaltung, die selbst eingeräumt haben, dass das behauptete Liebes- und Sexverbot (das angeblich international und national Standard sei) vom Land Tirol in keinem einzigen Fall jemals angewendet worden ist.

OLG: Liebesverbot ist plausibel

Das Landesgericht Innsbruck hat daher das Land Tirol im Juni 2019 neuerlich zum Schadenersatz verurteilt. Das Land Tirol hat dagegen wieder berufen und das Oberlandesgericht Innsbruck dem Land Tirol wieder (unanfechtbar) recht gegeben (Beschluss 13.05.2020, 15 Ra 13/20d, 15 Ra 14/20a, 15 Ra 15/20y). Der behauptete nationale und internationale Standard, dass Personen, die am Jugendamt arbeiten, einvernehmliche Intim- und Liebesbeziehungen im Privaten mit Erwachsenen zwischen 18 und 21 Jahren gar nicht oder nur mit Zustimmung ihrer Vorgesetzten haben dürften, sei plausibel. Auch wenn das Land Tirol keinen einzigen Beleg dafür, nicht einmal aus dem eigenen Bereich, vorlegen konnte und das behauptete Liebes- und Sexverbot noch nie angewendet wurde, müsse das Landesgericht Innsbruck ein Sachverständigengutachten aus dem Bereich der Sozialpädagogik und Jugendarbeit einholen, ob ein solches Liebes- und Sexverbot in diesem Fachbereich Standard ist.

Im dritten Rechtsgang wurde das Verfahren, nach acht Jahren Verfahrensdauer, durch Vergleich beendet, über dessen Inhalt Stillschweigen vereinbart wurde. Ob das behauptete, aber vom Land Tirol selbst nie praktizierte Liebes- und Sexverbot für am Jugendamt beschäftigte Personen (das, angesichts des ebenfalls ins Treffen geführten Vorbehalts der Genehmigung durch Vorgesetzte, an mittelalterliche Leibeigenschaft erinnert) tatsächlich internationaler und nationaler Standard der Sozialpädagogik ist oder bloß eine kreative und durchaus mutige Schutzbehauptung zur Verschleierung einer Diskriminierung, wurde daher in diesem Verfahren nicht mehr gerichtlich geklärt. Ob es, außerhalb eines Prozesses gegen einen HIV-positiven Homosexuellen, vom Land Tirol jemals wieder behauptet und von einem Gericht als "plausibel" erklärt werden wird? (Helmut Graupner, 10.8.2021)