Seit 1994 hält sich Alexander Lukaschenko in Belarus an der Macht – an sein Wahlergebnis von 80 Prozent glaubt kaum jemand.

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Alexander Lukaschenko hat zum "großen Gespräch" geladen: Auf der Veranstaltung am Montag, in Art und Aufmachung den TV-Audienzen seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin ähnlich, gab der 66-Jährige seine Einschätzung der umstrittenen Präsidentenwahl vor genau einem Jahr wieder.

"Wir haben damals die Wahlkampagne und die Wahl unter den Bedingungen absoluter Glasnost und Demokratisierung durchgeführt. Der Unterschied war nur: Die einen haben faire und gerechte Wahlen vorbereitet – die anderen aber, die dazu aufriefen, auf die Obrigkeit drauf zu schlagen, einen Umsturz", so der seit 1994 in Minsk regierende Amtsinhaber.

Bei der Pressekonferenz erntete Lukaschenko keinen Widerspruch, doch als im vergangenen Sommer die Wahlkommission das übliche offizielle Endergebnis – 80 Prozent der Stimmen für Lukaschenko – bekanntgab, demonstrierten mehr als eine Million Belarussen auf der Straße, dass sie Lukaschenkos Einschätzung von "fairen und gerechten Wahlen" nicht teilten. Sie sahen in seiner Herausforderin Swetlana Tichanowskaja, einer Verlegenheitskandidatin nach der Inhaftierung der ursprünglichen Oppositionsführer, die Siegerin der Abstimmung.

Gewalt gegen Proteste

Die Massendemos riefen die tiefste und längste Krise der Ära Lukaschenko in Belarus hervor. Protestiert wurde zwar auch früher schon, doch der ehemalige Kolchose-Chef machte dem Spuk gewöhnlich schnell ein Ende. Diesmal ließ sich die Opposition von der Polizeigewalt nicht so bald einschüchtern. Monatelang gehörte das Zentrum in Minsk am Wochenende den – stets friedlichen – Demonstranten.

Doch ihr wichtigstes Ziel, die Konsolidierung des gesamten Volkes, verfehlte auch sie. Tichanowskaja, mit Gewaltandrohung nach Litauen abgeschoben, wurde so nicht zur einigenden Symbolfigur der Proteste. Die staatliche Propaganda erklärte sie schnell zur ausländischen Agentin. Den ausgerufenen Generalstreik konnte die Opposition trotz anfänglicher Erfolge nicht durchsetzen.

Zwei Faktoren waren und sind für den Machterhalt Lukaschenkos ausschlaggebend: Russland und die Silowiki. Der gesamte Sicherheitsapparat steht bis heute fest zum Präsidenten, auch weil dieser ihnen als einziger Straffreiheit für die toten und verletzten Demonstranten, für die Folter in den Gefängnissen und die Schnellurteile der Richter zusichern kann. Der Kreml hingegen handelt aus der Befürchtung heraus, den letzten Satellitenstaaten an den Westen zu verlieren. Zwar hatte Lukaschenko vor der Wahl mit Angriffen gen Moskau zu punkten versucht, nach der Abstimmung jedoch vom Westen isoliert ist er abhängiger als je zuvor von der russischen Führung.

Minimaler Spielraum

Für Lukaschenko hat sich der Spielraum in dem einem Jahr seit dem 9. August 2020 deutlich verengt. Wirtschaftlich ist Belarus schwer angeschlagen, die Sanktionen belasten das Land zusätzlich. Politisch sind die Grenzen spätestens nach dem Kidnapping des Bloggers Roman Protassewitsch und der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk nach Westen dicht. Damit ist die Schaukelpolitik, derer sich Lukaschenko fast ein Vierteljahrhundert lang bediente, am Ende.

Aus dem Exil in Litauen muss Swetlana Tichanowskaja Politik machen.
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Dadurch basiert auch die Macht des "letzten Diktators in Europa" mehr denn je auf dem Repressionsapparat. Hatten lange Zeit viele Belarussen Lukaschenko als Garant der Stabilität gesehen, ist dieser Konsens der "stillen Mehrheit" nun aufgebrochen. Angst herrscht selbst bei politisch Uninteressierten. Diese Furcht sichert nur unter bestimmten Umständen Gehorsam, wie zuletzt am Beispiel der Sprinterin Kristina Timanowskaja deutlich wurde. Als die Olympiateilnehmerin nach einem emotionalen Posting gegen die Führung des eigenen Sportverbands in Minsk auf einmal als Verräterin gebrandmarkt wurde, flüchtete sie ins Ausland, statt sich still in die Heimat abschieben zu lassen.

Die Perspektiven für einen friedlichen Machttransfer sind unter diesen Umständen minimal. Selbst die von Lukaschenko angeschobene Verfassungsreform bietet dafür kein echtes Instrument. Denn inzwischen braucht der Präsident die Macht um seiner eigenen Sicherheit willen. Bei einem Rücktritt muss er mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.

Und die Tatsache, dass die USA weitere Sanktionen verhängen wegen Lukaschenkos "Angriffs auf die demokratischen Bestrebungen und die Menschenrechte der belarussischen Bevölkerung", macht die Sache nicht einfacher. (André Ballin aus Moskau, 10.8.2021)