Wiens längste Einkaufsmeile hat eine neue "Attraktion". Seit dem Abriss des Leiner-Hauses auf der Mariahilfer Straße klafft eine unübersehbare Lücke im Stadtbild. Das offenbart eine noch größere Lücke im Denkmal- und Stadtbildschutz, denn der Leiner ist bei weitem kein Einzelfall.

Das Denkmalamt hatte gegen die Demolierung des alten Kaufhauses nichts einzuwenden. Die Politik zeigte sich über die Abriss- und Neubaupläne überhaupt begeistert. Damit blieb den Wiener Beamten, die das alte Haus durchaus hätten schützen können, eigentlich keine Wahl mehr.

Der vom einflussreichen Immobilienkonzern Signa als "Traditionswarenhaus" vermarktete Neubau wird weitgehend ohne Bezug in das Stadtbild implantiert. Doch Tradition lässt sich nicht so einfach aus dem Boden stampfen.

Das 1895 erbaute "Leiner-Haus" in der Mariahilfer Straße wurde trotz Schutzzone abgerissen.
Foto: Georg Scherer

Nieder mit dem Biedermeier

Nur zwei Gehminuten entfernt von der Leiner-Lücke geht vielleicht bald ein Stück echter Tradition seinem Ende entgegen. Das Biedermeierhaus in der Breite Gasse 15 ist ein Klassiker der brüchigen Wiener Altstadterhaltung.

Unter dem Titel "Die Demolierer und der Denkmalschutz" beschrieb die Germanistin Daniela Strigl den Fall schon 2014 im STANDARD. Seither hat sich nichts geändert. Nach wie vor gilt kein Denkmalschutz. So hängt die Weiterexistenz des über 200 Jahre alten Hauses überhaupt nur an der allzu zahnlosen Ortsbild-Schutzzone. Ein Ansuchen auf Abriss ist schon gestellt worden.

Das Biedermeierhaus in der Breite Gasse 15 im 7. Bezirk könnte bald abgerissen werden.
Foto: Georg Scherer

Schön auch ohne Schmuck

Auch vergleichsweise moderne Häuser sind vor der Abrissbirne nicht gefeit. Im beschaulichen Hietzing wackelt derzeit eine Villa aus den 1930ern. Form und Fenster erinnern an die Jahrhundertarchitekten Peter Behrens und Adolf Loos sowie an frühe Gemeindebauten. Die Villa in der Hofwiesengasse 29 hat auch nach 90 Jahren nichts von ihrer Modernität eingebüßt.

Das Gebäude ist ein Zeugnis der letzten Architekturperiode, für die Wien international berühmt geworden ist. Im Gegensatz zum zeitgleich errichteten Haus Beer, das gerade zu einem Museum umgebaut wird, steht die Villa nicht unter Denkmalschutz.

Wird die 1931 erbaute Villa in der Hofwiesengasse 29 abgerissen?
Foto: Georg Scherer

Gestern "wertlos", heute Baudenkmal

Was wäre Wien ohne seine alten Häuser? Dasselbe, was auch Prag und Florenz ohne ihr gebautes historisches Erbe wären. Doch welche Gebäude sind es wert, erhalten zu werden? Simple Kriterien wie Alter oder Fassadenschmuck können es nicht sein. So sind viele Gebäude, die heute selbstverständlich unter Denkmalschutz stehen, eigentlich verhältnismäßig schlicht – zum Beispiel das Alte AKH und das Spätwerk von Otto Wagner.

Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als schützenswert angesehen wird und was nicht, ist überdies keineswegs für immer in Stein gemeißelt. So galten die kunstvollen Fassaden der Gründerzeit noch in der Nachkriegszeit als wenig attraktiv – und wurden nicht selten einfach abgeschlagen.

Ein sprechendes Beispiel für einen Sinneswandel im Denkmalschutz ist die Rossauer Kaserne. In den 1970ern sagte ein Vertreter des Denkmalamts über den Backsteinbau: "Eine x-beliebige nachgemachte Kaserne nach anderen Kasernen, die im Ausland schon längst abgerissen sind." Der Abbruch wurde ernsthaft diskutiert. Doch das Gebäude blieb erhalten und wurde schließlich doch unter Schutz gestellt.

Das sollte zu denken geben. Im Zweifelsfall wird der Erhalt wahrscheinlich die bessere Wahl sein, vor allem wenn die ganze kulturhistorische Bedeutung eines Hauses berücksichtigt wird. Doch das ist derzeit gar nicht so einfach, denn das Denkmalschutzgesetz ist höchst unflexibel.

In den 1970ern dem Abriss entgangen: Rossauer Kaserne in Wien-Alsergrund.
Foto: Wikicommons/Thomas Ledl (CC 3.0) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rossauer_Kaserne_Ansicht_1.jpg?uselang=de)

Abriss leichtgemacht

Das Biedermeierhaus in der Breite Gasse und die Villa in Hietzing sind ohne Denkmalschutz akut gefährdet. Aber sie sind nur die sichtbarsten Spitzen viel grundlegenderer Probleme:

  • Das Denkmalamt ist personell unterbesetzt und kommt mit der Unterschutzstellung von Gebäuden kaum nach.
  • Das Denkmalschutzgesetz ist so limitiert, dass für die allermeisten Gebäude kein Schutz möglich ist.
  • Die Stadt Wien kann seit den 1970ern Schutzzonen für historische Gebäude einrichten. Doch fast ein halbes Jahrhundert später fehlen solche Schutzzonen immer noch in vielen Bezirken.
  • Auf vielen Grundstücken darf vergleichsweise hoch gebaut werden. Oft deutlich höher als die dort befindlichen alten Häuser. Wirtschaftlicher Druck und Abrisse sind die Folge.

Im Dunkel der Abbruchreife

Ein kleiner Schritt hin zu mehr Abrissschutz gelang der rot-grünen Wiener Stadtregierung im Jahr 2018. Seither können die Magistrate alle vor 1945 erbauten Häuser vor Abbrüchen schützen. Doch wie bei Schutzzonen lässt sich auch diese Regelung durchaus umgehen.

Es muss bloß per privat beauftragtem – und privat bezahltem – Gutachten nachgewiesen werden, dass sich ein Haus nicht mehr wirtschaftlich sanieren lässt. Kommt die Sanierung teurer als ein Neubau, darf abgerissen werden. Die Details solcher Abbruchverfahren bleiben jedoch im Dunkeln. Nur Eigentümer, Gutachter und einige Beamte sind daran beteiligt. Unabhängige Stellen haben keine Einsicht.

Basis für diese Praxis bildet unter anderem die Bauordnung (ein Landesgesetz). Darin findet sich gleichsam eine Hintertür für Abrisse erhaltenswerter Häuser. Vielleicht auch, weil großen Bauträgern und der Stadt selbst möglichst keine Hindernisse in den Weg gelegt werden sollen? Immerhin machte sogar die Stadt Wien Gebrauch davon, etwa beim Abriss einer historischen AKH-Klinik.

Die 1911 nach Plänen des Ringstraßen-Architekten Emil von Förster erbaute I. Medizinische Klinik wurde 2020 abgerissen.
Foto: Georg Scherer

Was soll erhalten bleiben?

Nicht jedes alte Gebäude ist per se schützenswert, und jede Stadt verändert sich im Laufe der Zeit. Die Fragen sind nur: Wie geht die Veränderung vor sich? Lassen sich manche Gebäude wirklich nicht mehr sanieren? Braucht es mehr öffentliche Förderungen für Sanierungen? Wird auch im Neubau Wert auf Ästhetik gelegt, sollte ein Abriss unumgänglich sein?

Ein allzu leichtfertiger Umgang mit der gebauten Vergangenheit kann jedenfalls fatale Folgen haben. So wurden in der Zweiten Republik neben zahllosen Gründerzeithäusern auch Bauten von Otto Wagner und etliche Palais und Theaterhäuser geschleift. Sogar für das Palais Ferstel, das Verkehrsbüro beim Naschmarkt und das Raimundtheater gab es einst Abrisspläne.

Die Politiker im 1. Bezirk wollten 1978 das Verkehrsbüro-Gebäude abreißen lassen, um mehr Platz für den Autoverkehr zu bekommen.
Foto: www.corn.at Heribert CORN/derstandard

Spätestens seit den Protesten von Fridays for Future gegen den Abriss eines Altbaus in Krems ist klar: Es geht schon lange nicht mehr bloß um Fragen der Ästhetik. Auch der Faktor Ressourcen spielt mit hinein. Während mit dem Leiner-Haus ein innen und außen saniertes Gebäude abgerissen wurde, schreibt die Vereinigung Architects for Future: "Eine Sanierung ist jedem Neubau, selbst dem von Passivhäusern, vorzuziehen."

Traut sich die Politik an Reformen?

Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, den Denkmalschutz auf neue Beine zu stellen. Laut Eva Blimlinger (Grüne) ist eine Gesetzesänderung in Vorbereitung. Auch Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) könnte viel für Österreichs gebautes Kulturerbe tun. Einerseits durch ein höheres Budget und folglich mehr Personal für das Denkmalamt. Andererseits durch Steuererleichterungen für Eigentümer von denkmalgeschützten Gebäuden. Seit 16 Jahren warten dahingehende Vorschläge auf eine Umsetzung. Für den Fiskus wäre das sogar ein Gewinn, da Sanierungen dann attraktiver wären.

Der entscheidende Player ist aber die Wiener Stadtregierung. Sie könnte Bauordnung und Abbruchverfahren reformieren. Das Interesse hält sich aber in Grenzen: "Eine grundsätzliche Änderung der Abbruchregelungen steht derzeit nicht in Aussicht", erklärte die Abteilung von Vizebürgermeisterin Kathrin Gaál (SPÖ) auf eine Anfrage zur gefährdeten 30er-Jahre-Villa. Mehr als zwei Monate ließ sich das Wohnbauressort mit dieser Antwort Zeit.

Das teilweise noch original erhaltene Gründerzeithaus Ecke Gudrunstraße/Humboldtgasse im 10. Bezirk wird wegen angeblicher Abbruchreife abgerissen.
Foto: Georg Scherer

Müssen erst die Abrissbagger anrücken und die Villa in Hietzing und das Biedermeierhaus am Spittelberg niederreißen, damit ein Umdenken stattfindet? Kann es wirklich im Interesse der Stadt und ihrer Bewohner sein, wenn auch diese Gebäude so enden wie das große Gründerzeithaus in Favoriten, das demnächst demoliert wird? (Georg Scherer, 13.8.2021)