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Gegen den Eroberungsfeldzug der islamistischen Taliban haben die meisten afghanischen Truppen derzeit kaum noch Chancen.

Foto: AP / Hamed Sarfarazi

Kabul – Die EU-Botschafter in Afghanistan empfehlen, Abschiebungen in das Krisenland vorerst auszusetzen. Angesichts des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage und des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine vorübergehende Aussetzung von Zwangsrückführungen aus EU-Staaten nach Afghanistan zu erwägen, heißt es in einem am Dienstag an die Mitgliedsstaaten versendeten Bericht der EU-Missionschefs in Kabul.

Taliban auf Vormarsch

Abschiebungen nach Afghanistan sind wegen der sich massiv verschlechternden Sicherheitslage umstritten. Zuletzt hat das afghanische Flüchtlingsministerium EU- und andere europäische Länder dazu aufgerufen, ab Juli für drei Monate die Abschiebungen einzustellen. Die islamistischen Taliban kontrollieren mittlerweile knapp mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes.

Am Dienstag fiel die Hauptstadt Farah der gleichnamigen Provinz im Westen des Landes an die Islamisten. Das bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter. Die Islamisten hätten die wichtigsten Einrichtungen der Regierung in der Stadt eingenommen, darunter das Polizeihauptquartier, den Gouverneurssitz und das Gefängnis der Stadt. Damit haben die Islamisten binnen fünf Tagen sieben von 34 Provinzhauptstädten eingenommen.

In diesem Zusammenhang warnt die EU vor einem bevorstehenden Bürgerkrieg: 65 Prozent der Landesfläche würden schon von den Taliban kontrolliert, sagt ein hochrangiger EU-Vertreter am Dienstag. Zugleich versuchten die Taliban, die Hauptstadt Kabul von der Unterstützung aus dem Norden des Landes abzuschneiden. Es gelte, einen Bürgerkrieg in dem Land zu verhindern. Ein solcher könnte auch dazu führen, dass es zu einem "massiven Migrationsfluss" komme oder in Afghanistan noch mehr Drogen produziert würden, sagte der EU-Vertreter.

Unterstützung von Organisationen gefordert

Den EU-Staaten wird in dem Brief der Botschafter, der der Deutschen Presse-Agentur in Auszügen vorliegt, zudem empfohlen, die Unterstützung und den Einsatz der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des UN-Flüchtlingshilfswerks in Pakistan, dem Iran und der Türkei fortzusetzen und zu verstärken, da diese Länder den größten Zustrom von Flüchtlingen aus Afghanistan aufnehmen dürften.

Es ist ungewöhnlich, dass eine derartige Empfehlung ausgedrückt wird. Migrationsfragen sind eigentlich Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die Missionschefs vor Ort können bestimmte Themen analysieren und hinterfragen, aber nicht in Hauptstadtentscheidungen eingreifen. In Kabul betreiben noch acht EU-Länder Botschaften, Österreich nicht. Alle Missionschefs haben den Bericht unterzeichnet.

Österreich war nicht eingebunden. Aus dem österreichischen Außenministerium hieß es auf APA-Anfrage: "Der Bericht zur Sitzung der EU-Missionschefs in Kabul und die darin enthaltenen Empfehlungen wurden mit der für Afghanistan zuständigen Österreichischen Botschaft in Islamabad nicht koordiniert."

In Österreich hat sich zuletzt die Debatte über einen Abschiebestopp verschärft. Zuletzt war ein Abschiebeflug Anfang August abgesagt worden. Die Regierung hält aber an den Abschiebungen fest.

Nato fordert Ende der Taliban-Angriffe

Unterdessen forderten die USA und die Nato die Taliban zu einem Ende ihrer Angriffe auf. Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad sei nach Katar abgereist, um "die Taliban zur Beendigung ihrer Militäroffensive und zu Verhandlungen über eine politische Lösung zu bewegen", erklärte das US-Außenministerium am Montag. Die Nato bewertet den gewaltsamen Vormarsch der Taliban als besorgniserregend. Auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, zeigte sich alarmiert.

Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad soll ein Ende der Taliban-Angriffe bewirken.
Foto: AFP / KARIM JAAFAR

In den für drei Tage angesetzten Gesprächen in Katar wollen die USA mit Vertretern von Ländern in der Region sowie mit multilateralen Organisationen auf eine Verringerung der Gewalt und einen Waffenstillstand hinarbeiten und sich dazu verpflichten, keine mit Gewalt durchgesetzte Regierung anzuerkennen, hieß es. Khalilzad hatte maßgeblich die Modalitäten des Abzugs der US-Truppen mit den Taliban ausverhandelt.

Nato glaubt nicht an militärische Lösung

Die Nato sieht das hohe Maß an Gewalt der Taliban bei ihrer Offensive, darunter Angriffe auf Zivilisten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen, mit "tiefer Sorge", teilte ein Nato-Offizieller der Deutschen Presse-Agentur mit. Die Taliban müssten verstehen, dass die internationale Gemeinschaft sie nie anerkennen werde, wenn sie den politischen Prozess verweigerten und das Land mit Gewalt erobern wollten. "Sie müssen ihre Angriffe beenden und redlich an Friedensgesprächen teilnehmen."

Der Konflikt lasse sich nicht militärisch lösen, hieß es. Ein Friedensprozess unter afghanischer Führung müsse eine Waffenruhe und eine politische Lösung vorantreiben. Diese müsse insbesondere die Menschenrechte von Frauen, Kindern und Minderheiten wahren sowie sicherstellen, dass Afghanistan "nie wieder zum sicheren Hafen für Terroristen" werde. Die Nato rufe alle regionalen Akteure dazu auf, konstruktiv dazu beizutragen, da alle von einem sicheren und stabilen Afghanistan profitieren würden.

Russland verstärkt Truppen

Militärisch verstärkt werden jedenfalls die russischen Truppen in der Militärbasis in Zentralasien. Die in der Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan stationierten Soldaten seien mit neuen Waffen ausgestattet worden, teilte das russische Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Zu dem Militärstandort unweit der afghanischen Grenze seien unter anderem tragbare Flugabwehrsysteme, Flammenwerfer und Maschinengewehre gebracht worden.

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Nahe der afghanischen Grenze von Tadschikistan veranstaltete Russland eine Militärübung mit Usbekistan und Tadschikistan.
Foto: REUTERS / DIDOR SADULLOEV

Diese Waffen seien auch bei der gemeinsamen Militärübung mit Tadschikistan und Usbekistan eingesetzt worden, die am Dienstag endete. Bei dem sechstägigen Manöver hatten 2.500 Soldaten unter anderem die Abwehr ausländischer Kämpfer trainiert. Russische Kampfflugzeuge simulierten dabei Raketenangriffe auf feindliche Stellungen.

Berichte über Kriegsverbrechen

Berichte aus den Regionen legten nahe, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, teilte UN-Menschenrechtshochkommissarin Bachelet am Dienstag mit. Alle Beteiligten des Konflikts müssten weiteres Blutvergießen stoppen. Alle Staaten, die Einfluss auf die Parteien haben, müssten sich dafür einsetzen, dass die Kämpfe beendet werden.

Seit dem 9. Juli seien in vier Städten, darunter Kunduz, mindestens 183 Zivilisten ums Leben gekommen und fast 1.200 verletzt worden, so Bachelet. Die wahren Zahlen seien wahrscheinlich deutlich höher. Seit Beginn der Taliban-Offensive im Mai seien mindestens 241.000 Menschen durch Kämpfe vertrieben worden.

Massenhinrichtungen

Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen hätten, würden Massenhinrichtungen gemeldet sowie Angriffe auf Regierungsvertreter und ihre Familien, erklärte die Menschenrechtskommissarin. Schulen, Krankenhäuser und Wohnhäuser würden zerstört und Antipersonenminen ausgelegt. Die Uno hat demnach auch Berichte erhalten, dass gegen afghanische Soldaten schwere Menschenrechtsverbrechen begangen wurden, obwohl ihnen Verschonung zugesagt wurde, wenn sie sich ergeben.

Frauen dürfen laut diesen Berichten ihre Häuser nicht mehr verlassen. In einigen Fällen sollen Frauen in der Öffentlichkeit geschlagen worden sein, wenn sie gegen die neuen Regeln verstießen. Eine Frauenrechtlerin sei erschossen worden. "Die Menschen befürchten zu Recht, dass die Machtübernahme der Taliban alle Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte im Menschenrechtsbereich ausradiert", sagte Bachelet.

Seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die Taliban massive Gebietsgewinne verzeichnet und erobern derzeit eine Provinzhauptstadt nach der nächsten. Sie hatten von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle. (red, APA, 10.8.2021)