Die Historikerin und Rechtswissenschafterin Stephanie Rieder durchforstet Scheidungs- und Eheannullierungsakten aus der Zeit von 1783 bis 1938.

Foto: IFK / Jan Dreer

Vor Gericht kam schon im 18. und 19. Jahrhundert Pikantes zur Sprache. Nicht selten ging es um Impotenz, Geschlechtskrankheiten oder Untreue. "Die Zeit war keineswegs so prüde und Sexualität kein so großes Tabu, wie wir heute oft annehmen", sagt Stephanie Rieder.

Für ihre Doktorarbeit durchforstet die Historikerin und Rechtswissenschafterin Scheidungs- und Eheannullierungsakten aus der Zeit von 1783 bis 1938. "Anhand der Akten lässt sich rekonstruieren, wie man zu verschiedenen Zeitpunkten vor Gericht über Sexualität sprechen konnte", erklärt sie ihr Forschungsinteresse.

Eine reiche Quelle sind derartige Dokumente, da katholisch getraute Ehen nur unter besonderen Umständen für ungültig erklärt werden konnten. Daneben gab es die Scheidung von Tisch und Bett, bei der das Eheband jedoch bestehen blieb.

Sexualität wurde dabei oft zum juristisch relevanten Sachverhalt. "War ein Partner impotent, galt das als derart großer Mangel, dass die Ehe unter Umständen für ungültig erklärt werden konnte", berichtet Rieder, Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.

Zur Feststellung der immerwährenden Impotenz oder auch in anderen Zusammenhängen wurden Ärzte als Sachverständige für die Untersuchung und Befragung zugezogen. "Daraus resultierte ein sehr männlich dominiertes Sprechen über Sexualität, da auch Richter, Anwälte und Schriftführer fast ausschließlich Männer waren", schildert die gebürtige Wienerin.

Du-Wort als Betrugsindiz

Trotzdem konnten auch Frauen vor Gericht über Sex sprechen und taten das vielfach erfolgreich. "In einem Fall aus den 1860er-Jahren klagte eine Frau, dass ihr Mann seit fast 30 Jahren keinen Verkehr mit ihr gepflogen habe. Ich fand es spannend, dass Frauen diesen Umstand vor Gericht artikulieren konnten", sagt Rieder.

Auch aus heutiger Sicht kuriose Sittenbilder kommen ans Licht. Zwischen 1900 und 1938 hatte etwa ein kleines Wort großes Gewicht, so die Forscherin. "Das Du-Wort war vor Gericht ein potenzielles Indiz, um Verletzungen der ehelichen Treue aufzudecken." So kam ihr ein Akt unter, in dem zu lesen ist, dass der Ehemann mit einer anderen Frau als seiner Gattin seit längerer Zeit "auf dem Du-Fuß" stehe. Ein verräterischer Fauxpas.

Rieder, die Rechtswissenschaften und Geschichte studierte und in einer Anwaltskanzlei arbeitete, hat nunmehr ihre Leidenschaft für die Forschung entdeckt. "Die Akten wecken und stillen meine Neugier immer wieder aufs Neue", erzählt sie. Abseits der Wissenschaft fesseln sie Sprachen, sieben spricht sie bereits, zuletzt hat sie Russisch und Neugriechisch gelernt.

Griechenland ist auch eine ihrer liebsten Destinationen. Die Seele am Strand baumeln zu lassen sei ein perfekter Ausgleich zur Forschungsarbeit. In Letzterer hat sie aber ihre Berufung gefunden, ist sie sicher: "Ich will auch nach meiner Dissertation keinen Schlussstrich unter die Forschung ziehen." (Margarete Endl, 11.8.2021)