Der Golem, hier in der Verfilmung von Paul Wegener aus dem Jahr 1915, ist die bekannteste Figur der jüdischen Mystik – und die ist bis heute Quelle für die Popkultur.
Foto: Filmarchiv Austria

Die Erforschung der Vergangenheit ist auch immer eine Form der Totenbeschwörung. So schrieb der Dramatiker Heiner Müller einst: "Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist."

Besonders bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust wird das zum Mantra: Schließlich geht es bei der Untersuchung des Massenmords an den europäischen Juden nicht nur um die Frage, wie er möglich werden konnte und wie er abgelaufen ist.

Dabei ist man auch immer damit konfrontiert, was an Kultur mit den unzähligen Menschen, die in den Massengräbern und Verbrennungsöfen verschwanden, untergegangen ist. Und wie liegt dieser Schatten der Vergangenheit bis heute auf jenen Gesellschaften, die an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren? Die meisten Täter und Opfer sind zwar inzwischen gestorben, aber das kollektive Trauma besteht immer noch.

Verdrängte Geschichte

Zuzanna Dziuban vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich mit diesem häufig nur undeutlich sichtbaren "Nachleben" der Opfer des Holocaust in der polnischen Moderne.

Denn auch in Polen sind die vor Ort verübten Gräueltaten bis heute nicht vollständig aufgearbeitet und daher mit einem hohen Grad an Verdrängung verbunden: Ähnlich wie in Österreich gefielen sich große Teile der polnischen Bevölkerung lange Zeit in der Opferrolle und kehrten das Ausmaß der Kollaboration mit den deutschen Besatzern und damit die eigene Rolle bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung unter den Teppich – und ließen zum Teil auch später nicht von antisemitischen Diskriminierungen ab.

So hörte man in Polen mit der Enteignung von jüdischem Besitz auch nach dem Krieg nicht auf, berichtet Dziuban: "Dieser Prozess hielt bis weit in die Nachkriegszeit an – mit weitgehender staatlicher Beteiligung. Von den Nazis konfiszierte Geschäfte und Grundstücke wurden vom polnischen Staat übernommen. Ihre Rückgabe, die jüdische Überlebende in den frühen Nachkriegsjahren forderten, wurde, obwohl gesetzlich abgesichert, fortschreitend eingeschränkt und von der breiten Bevölkerung abgelehnt."

Grabdiebstähle

Besonders verdeutlicht sieht die Kulturwissenschafterin, die ihre Ausbildung an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań begann, diese Tendenz in den Grabdiebstählen, die in Polen nach dem Rückzug der Wehrmacht stattfanden. Zahlreiche Massengräber öffnete man auf der Suche nach Wertgegenständen – vornehmlich Goldzähnen. So wurden diese Opfer als Tote noch ein zweites Mal bestohlen und entwürdigt. Auch diese Plünderungen sind erst seit gut einem Jahrzehnt Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung.

Was verdrängt wird, ist aber nicht verschwunden. Die Geister der Vergangenheit spukten in den folgenden Jahrzehnten vor allem im polnischen Aberglauben weiter: Dziuban selbst bekam noch vor nicht allzu langer Zeit bei Feldforschungen über die Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und Treblinka vor Ort von der Bevölkerung immer wieder solche – auch antisemitisch gefärbten – Gruselmärchen zu hören, die häufig mit Grabdiebstählen in Verbindung standen.

Ihre Forschungen stellte Dziuban auch bei der von ihr mitorganisierten Tagung "The Afterlives of the Holocaust" vor, die vor kurzem im Simon-Wiesenthal-Institut für Holocauststudien stattfand, unterstützt unter anderem vom Wissenschaftsministerium.

Boom jüdischer Narrative

Ende der 1980er – als, wie in vielen Ostblockstaaten, auch in Polen eine Zeit der gesellschaftlichen Liberalisierung begann – tauchen die unterdrückten Geister jedoch wieder vermehrt auf, vor allem in der Kunst.

Die Gespenster der Holocaust-Überlebenden haben seitdem Konjunktur: "Jüdische Geister streifen durch ein breites Reich der polnischen Kultur. Diese Figuren tauchten vor 1989 auf, als in Polen das Interesse für die jüdische Vergangenheit erwachte, und dies verstärkte sich in den 1990ern", sagt Dziuban. "Im letzten Jahrzehnt hat man – in der Kunst, in der Literatur, im Kino – einen Boom dieser Narrative, in denen sich jüdische Geister und Polen begegnen, beobachten können."

Dabei nehmen diese an den Holocaust erinnernden Untoten inzwischen zahlreiche Gestalten an – so treten sie nicht nur als Gespenster, sondern auch in Form von Zombies und anderen Monstern auf und überliefern in der Popkultur jene wahren Geschichten, über die im Nachkriegspolen so lange geschwiegen wurde: "Diese jüdischen Geister werden gespürt und gesehen. Sie ergreifen Besitz und erzählen ihre Geschichten über das Alltagsleben im Polen vor dem Krieg und manchmal über den gewaltsamen Tod im Holocaust."

Totengeist Dibbuk

Diese Figuren zeigen sich aber nicht nur in Gestalt von Horrorfiguren aus aller Welt, sondern häufig bedienen sich ihre Schöpfer auch direkt aus der jüdischen Mystik, deren bekannteste Kreatur vermutlich der Golem ist. Zuzanna Dziuban hat sich unlängst einer anderen jüdischen Sagengestalt gewidmet, die sich in polnischen Schauerproduktionen derzeit großer Beliebtheit erfreut: dem Dibbuk.

Er ist in der jüdischen Folklore ein Totengeist, der von einem Menschen Besitz ergreift. Diese Geister seien ein besonders bezeichnendes Symbol für ein Polen, das sich zwar vermehrt mit seiner Vergangenheit beschäftigt, aber daraus noch längst nicht alle richtigen Lehren gezogen hat.

Traditionell spuken Geister vor allem am Ort ihres Ursprungs, um auf ein nahendes Unglück hinzuweisen. Dziuban: "Solange man das lauernde Unheil nicht bemerkt oder verleugnet, werden die Geister zurückkehren." Dieses neue Übel zu bekämpfen ist aber wiederum die Aufgabe der Lebenden. (Johannes Lau, 17.8.2021)