Eigentlich habe sie keine Ahnung, schreibt S. in einer Chatgruppe. Aber sie würde gern ihrem Kind kolloidales Silber geben. Es sei so infektanfällig, weil es zu häufig geimpft worden ist. Doch statt dass in der Gruppe jemand widerspricht, sagt, dass das erstens nicht heilt und zweitens schädlich sein kann, entsteht eine Diskussion, ob es günstiger ist, das Mittel zu kaufen oder selbst herzustellen.
Noch ein Beispiel: U. erzählt, dass sie mit ihrer Tochter die Nachbarn besucht hat, dort seien alle gegen Corona geimpft. Schnell habe U. ein Ziehen in der Lunge gespürt, zu Hause hätten sie und die Tochter festgestellt, dass sie plötzlich magnetisch seien. "Ein Teelöffel blieb im Bereich der Bronchien hängen! Bei meiner Tochter auch!", schreibt sie. Und: Trotz CDL sei der Effekt immer noch da.
Angst vor Shedding
CDL ist die Abkürzung für Chlordioxidlösungen, einst sorgten die für Aufsehen, als der damalige US-Präsident Donald Trump für Chlordioxid warb. Kolloidales Silber wiederum hat eine antibakterielle Wirkung und ist deshalb in alternativmedizinischen Kreisen weitverbreitet. Beides kann hochgefährlich sein, wenn man es einnimmt.
Und beides wird von einigen Impfskeptikern nicht nur eingenommen, sondern in vielen Fällen auch Kindern verabreicht. Hauptgrund ist die Angst vor dem sogenannten Shedding: davor, dass von Personen, die gegen das Coronavirus geimpft sind, schädliche Wirkungen auf andere ausgehen. Die berichteten Symptome sind vielseitig, sie gehen von Husten über Ausschlag bis hin zur Ansicht, magnetisch zu werden.
Dass die Covid-Schutzimpfung einer anderen Person das auslöst, ist laut Rainer Schmid, Toxikologe an der Med-Uni Wien, wissenschaftlich nicht haltbar. Selbst wenn man eine derartige Möglichkeit annehmen würde, könnte weder kolloidales Silber noch CDL etwas nützen. Das kolloidale Silber, auch Silberwasser genannt, wirke vor allem gegen Bakterien, darum werde es mitunter auch auf Wundverbände aufgetragen. Es einzunehmen sei "akut zwar nicht so toxisch, aber wenn Sie es lange genug nehmen, kann es zu neurologischen Nebenwirkungen kommen", sagt Schmid. Problematisch sei aber die Verbreitung: "Langfristig werden dadurch Keime angegriffen, wie bei einem Antibiotikum. Wenn Sie das lang genug trinken, kommt es zu Resistenzen."
Anschlag auf den eigenen Körper
Auch die Chlordioxidlösungen – sie verstecken sich hinter Kürzeln wie MMS, CDS und eben CDL – sieht der Toxikologe als "extrem problematisch" an. Die Substanz sei derart unspezifisch, "die fährt rein wie eine chemische Granate". CDL würde den Körper, wenn man es trinkt, "überall angreifen". Würde man es stark verdünnen, würde es "keine Wirkung mehr haben", sagt Schmid.
Dazu, wie weitverbreitet derartige Mittel sind, gibt es kaum Zahlen. Chatnachrichten, die dem STANDARD vorliegen, stammen aus österreichischen und deutschsprachigen Gruppen. Im Innenministerium heißt es aber auf Anfrage, die Vorgangsweise sei weder dem Ministerium noch dem Bundeskriminalamt aktenkundig, zumindest nicht in den Zentralstellen. Auch ein Rundruf in den neun Landespolizeidirektionen brachte keine Fälle zutage. Ebenso neu ist der Sachverhalt für die Kinder- und Jugendanwaltschaft.
Sehr wohl aber schlugen Fälle bei der Bundesstelle für Sektenfragen auf. Oft seien es besorgte Großeltern oder Geschwister, die sich melden würden, sagt Ulrike Schiesser, die Leiterin der Sektenstelle.
Nur: Was rät man dann, wie reagiert man als angehörige Person? Was man tun könne, hängt laut Schiesser vom Einzelfall ab: "Wenn das meine Schwester ist, dann werde ich nicht sofort zum Jugendamt gehen in dem Wissen, dass das die Beziehung nachhaltig stört", sagt sie. Also solle man versuchen herauszufinden, warum das jemand macht. "Ist das aus einer Unüberlegtheit oder weil es jemand empfohlen hat?" Dann könne man kritische Infos weiterleiten, davon gibt es einige: So warnt das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen vor CDL, über die Gefahr von Nanosilber gibt es sogar 80-seitige Abhandlungen im Gesundheitsministerium.
Anders sei das, wenn man "merkt, da ist jemand jeder Information verschlossen", sagt Schiesser. "Wenn Erwachsene sich selbst schädigen, kann man nicht einschreiten, aber bei Kindern hat die ganze Gesellschaft eine Verantwortung." Manchmal sei dann eine Meldung beim Jugendamt oder einer Kinderschutzeinrichtung nötig.
Aggression und Leidensdruck
Auch die Angst vor dem Shedding ist für Schiesser nicht neu, aus psychologischer Sicht folge sie sogar einer gewissen Logik: Es sei "eine Täter-Opfer-Umkehr", wenn man nun die Geimpften zu den Gefährdern erkläre, vor denen man sich schützen müsse. "Aber irgendwie muss man sich ja rechtfertigen, wenn man andere gefährdet, die Pandemie verlängert. Durch diese Umdrehung wird das erreicht." Und: Die Erschaffer derartiger Verschwörungserzählungen würden die Erzählungen immer weiter verschärfen, "um die Leute bei der Stange zu halten".
Man dürfe auch nicht den Leidensdruck der Betroffenen übersehen, der zu teils heftiger Aggressivität führt: "Das ist ein unglaublich belastendes, erschreckendes Szenario, die stehen unter einem Dauerstress, weil sie das Gefühl haben, sie stecken in einer brutalen Diktatur und kurz vor einem riesigen Massensterben, von dem ihr engstes Umfeld betroffen ist. Das macht unglaublichen Druck." (Gabriele Scherndl, 12.8.2021)