Am Mittwoch übernahmen die Taliban nach heftigen Kämpfen die Stadt Faisabad. Gekämpft wird zudem in zahlreichen anderen Landesteilen.

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Mit der Eroberung weiterer strategisch wichtiger Standorte haben die radikalislamistischen Taliban ihren Vormarsch im Norden Afghanistans am Mittwoch weiter vorangetrieben. Die Stadt Faisabad in der an Pakistan, China und Tadschikistan grenzenden Provinz Badachschan ist die achte Provinzhauptstadt innerhalb von sechs Tagen, die dem Ansturm der Aufständischen nicht standhalten konnte. Zudem eroberten die Kämpfer am Mittwoch auch den Flughafen und eine große Militärbasis der bereits gefallenen Stadt Kundus, wo wie in Faisabad jahrelang internationale Soldaten bis zum Truppenabzug im Mai stationiert waren.

Die Taliban dürften somit nun den gesamten Nordosten kontrollieren. Nach russischen Angaben gilt dies auch für die Grenzen zu den Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan. Laut EU-Vertretern stehen insgesamt bereits 65 Prozent des Landes unter der Kontrolle der Taliban, der schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Der US-Geheimdienst hält einen raschen weiteren Vormarsch der Taliban für möglich. Aus Kreisen des Verteidigungsministeriums verlautete, einer neuen Einschätzung zufolge könnten die Kämpfer theoretisch die Hauptstadt Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen einnehmen.

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Afghanistan hatte bereits im Juli wegen der prekären Sicherheitslage im Land um einen dreimonatigen Abschiebestopp gebeten. Finnland, Schweden und Norwegen sind der Bitte bereits nachgekommen. Nun haben sich auch die Niederlande und Deutschland dazu durchgerungen, Abschiebungen nach Afghanistan vorerst zu stoppen.

Sinneswandel in Berlin und Den Haag, nicht aber in Wien

Die beiden Länder hatten unlängst noch zusammen mit Österreich eine Fortsetzung der Rückführungen verlangt. Am Mittwoch hat das deutsche Innenministerium von Horst Seehofer diesbezüglich dann eine Kehrtwende vollzogen: "Der Bundesinnenminister hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen", hieß es in Berlin. Auch das Justizministerium in den Niederlanden erklärte, in den kommenden sechs Monaten wegen der "deutlich verschlechterten Lage" keine abgewiesenen Asylwerber mehr nach Afghanistan abzuschieben.

Österreich pocht hingegen weiter auf Rückführungen nach Afghanistan. "Wir halten an unserer Planung fest und machen keinen generellen Abschiebestopp", bestätigte das ÖVP-geführte Innenministerium am Mittwoch auf STANDARD-Nachfrage. Die Lage werde jedoch bei "jeder Rückführung" beurteilt. Medienberichte über einen für September geplanten Abschiebeflug nach Afghanistan wollte das Innenministerium bislang nicht kommentieren.

EGMR-Urteil

Zuletzt hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Verweis auf die Sicherheitslage in Afghanistan per einstweiliger Verfügung die Abschiebung eines abgelehnten Asylwerbers aus Österreich gestoppt. Während Experten darin einen möglichen Präzedenzfall für ähnliche Fälle sehen, wertet das Innenministerium den Spruch nur als Einzelfallbewertung und nicht als "pauschales Verbot" für Abschiebungen von Afghanen.

Österreich erntete dafür bereits herbe Kritik. Das Österreichische Rote Kreuz rief die österreichische Regierung dazu auf, ihre Haltung zu Abschiebungen nach Afghanistan zu überdenken. Allein im Juli habe das Rote Kreuz (IKRK) und sein Partner, die Afghanische Rothalbmondgesellschaft (ARCS), landesweit fast 13.000 Patienten mit Verletzungen durch Waffengewalt geholfen. Diese Zahl werde in diesem Monat wahrscheinlich noch steigen, da die Kämpfe in dichtbesiedelten Gebieten zunehmen.

Zuvor hatte bereits Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn die Haltung von Österreich, und auch Belgien, Griechenland und Dänemark kritisiert. Sie hatten sich – noch zusammen mit Deutschland und den Niederlanden – am Dienstag in einem Brief an die EU-Kommission gegen die Aussetzung von Abschiebungen ausgesprochen. "Es gibt keine Garantie dafür, dass die Betroffenen nicht in die Hände der Taliban fallen", betonte Asselborn daraufhin in einem Interview mit dem "Tagesspiegel". Er könne angesichts der Initiative "nur den Kopf schütteln". Eine Diskussion über mögliche Abschiebungen sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der angespannten Sicherheitslage in Afghanistan verfehlt. (fmo, 11.8.2021)