Andreas Laake weiß noch genau, wann er die Stimme seines Sohnes zum ersten Mal hörte. Sogar an die Minute kann er sich erinnern: "Es war der 7. Oktober 2013. Der Anruf kam um 19.02 Uhr." Laake, heute 61 Jahre alt, saß mit seiner Familie zu Hause in der Leipziger Wohnung.
Den ganzen Tag über hatte schon das Telefon geklingelt, viele wollten Hinweise auf seinen Sohn Marko geben, den Laake seit seiner Geburt 1984 noch nie gesehen hatte, den er aber jahrelang gesucht hatte.
Eigentlich war Laake schon müde, ging aber doch noch einmal ran. Es meldete sich niemand, er hörte jedoch ein leises Atmen. "Auf einmal wusste ich, das ist er", erinnert sich Laake. "Mein Marko?", fragte er. "Dein Marko", war die Antwort. Und dann konnte er seinem Sohn sagen, was er ihm seit Jahrzehnten hatte versichern wollen: "Ich habe dich nicht weggegeben."
Flucht über die Ostsee
Das nämlich hatte Marko zeit seines Lebens glauben müssen. Dass ihn seine leiblichen Eltern nicht wollten und zur Adoption freigegeben hatten. Es stimmte aber nicht. "Marko ist mir weggenommen worden, weil ich ein Feind der DDR war", sagt Laake.
Der Gießereifacharbeiter kam mit seinem Staat schon in jungen Jahren nicht zurecht. 1984 entschloss er sich, mit seiner schwangeren Frau zu fliehen. Mit einem Boot sollte es über die Ostsee in den Westen gehen.
Doch die beiden kamen dort nie an, sie wurden von Grenzschützern erwischt. Beim Verhör in Rostock schweigt Laake zunächst beharrlich, nennt nicht einmal seinen Namen. Doch er sieht, dass es seiner Frau schlecht geht, und geht auf den Deal seines Pflichtverteidigers ein: Er nimmt alle Schuld auf sich, dafür kommt seine Frau frei.
Zuchthaus Brandenburg-Görden
Vier Jahre und sieben Monate Haft lautet das Urteil später wegen unerlaubten Grenzübertritts, Laake kommt in das berüchtigte Zuchthaus Brandenburg-Görden. Der Kontakt zu seiner Frau wird ihm verboten, sie reicht 1986 die Scheidung ein. Laake weiß damals nicht, dass sie zuvor eingewilligt hat, Marko zur Adoption freizugeben.
Er will den Buben auf keinen Fall aufgeben, verweigert die Zustimmung zu Adoption. Schließlich wird ihm die Vaterschaft gerichtlich aberkannt, während er in Haft sitzt.
"In der DDR hat man bei derlei Adoptionen zwar gesagt, es gehe um das Kindeswohl. Aber in Wirklichkeit ging es darum, das Verhalten von missliebigen Eltern zu sanktionieren", sagt Thomas Lindenberger, Professor für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden. Er hat sich in einer Vorstudie wissenschaftlich mit dem Thema politisch motivierter Adoptionen in der DDR beschäftigt.
Weggenommen wurden die Kinder meistens jungen Frauen, alleinerziehenden Müttern, Minderjährigen oder eben Menschen, die bei der Republikflucht erwischt worden waren. Diese sollten ihre Kinder am besten vergessen.
Kraft durch ein Foto
Andreas Laake tut dies nicht. Als er 1988 aus dem Gefängnis kommt, holt ihn seine Mutter ab und kann ihm erstmals ein Foto des Neugeborenen zeigen. "Das gab mir Kraft", erinnert sich Laake. Er organisiert sein Leben neu, lernt Maler- und Lackierer und beginnt zu fragen.
1989 fällt die Mauer, doch der Vater ohne Kind stößt auch im wiedervereinigten Deutschland zunächst immer wieder auf Mauern und taube Ohren. Politiker, Anwälte, Detektive spannt er für seine Suche ein, doch er kommt nur sehr langsam voran. Mal bekommt er vom Jugendamt unter der Hand Fotos aus Markos Kindertagen, mal wird ihm auf einem kleinen gelben Zettel, den er heute noch hat, überhaupt erst das genaue Geburtsdatum seines Sohnes aufgeschrieben.
Zu Weihnachten fehlt er
Die Jahre vergehen und vergehen, Laake leidet vor allem zu Weihnachten: "Da war immer das Gefühl, es fehlt jemand." Der Durchbruch kommt erst im Oktober 2013, als sein Fall in der Sat1-Sendung Bitte melde dich ausgestrahlt wird. Marko greift zum Telefon und ruft an.
Wenig später treffen sich die beiden in Leipzig am Bahnhof – einem Ort, an dem sich nicht gerade wenige Menschen aufhalten. Laake erkennt seinen Sohn schon von weitem und sofort.
Das Verhältnis sei heute "gut und herzlich", sagt er. Aber natürlich "anders" als zu seinen fünf später geborenen Kindern, die er aufwachsen sah. Er sieht sich auch nicht als der alleinige Vater von Marko, sondern sagt: "Mein Sohn hat zwei Papas."
Denn da gibt es ja auch noch die Adoptiveltern, die nicht wussten, unter welchen Umständen sie zu ihrem Kind gekommen waren. Als endlich alle Akten vorliegen und die Geschichte nachgezeichnet werden kann, sagt Markos Adoptivvater: "Wenn ich das lese, darf ich ja gar keinen Sohn mehr haben."
Kein Hass
Und Laake kommt auch drauf, dass er 1988, bei der Haftentlassung, seinem Sohn zumindest räumlich sehr nahe war: "Die Straße, die vom Gefängnis wegging, führte an einem Haus vorbei. In dem lebte Marko. Aber ich wusste es ja nicht."
Groll oder Hass auf die DDR verspürt Laake nicht, obwohl sie ihm einen Teil seines Lebens und so viel Lebenszeit gestohlen hat. Das sei eben seine Lebensgeschichte. "Als Opfer", sagt der sechsfache Vater, "sehe ich mich nicht."
Eigentlich hätte das Thema mit dem Auffinden Markos ein Ende haben können. Doch Laake, der lange gedacht hatte, sein Schicksal sei singulär, merkte: "Es gibt ganz viele Betroffene, denen Kinder weggenommen wurden." Außerdem fand er: "Mir wurde von so vielen geholfen. Das wollte ich zurückgeben."
Er ist im Vorstand der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder, die Beratungen organisiert und eine Petition zur Aufarbeitung im Bundestag eingebracht hat.
Zahl der Fälle unklar
Nun, 60 Jahre nach dem Mauerbau, mit dem 1961 das DDR-Unrecht für 28 Jahre lang einzementiert wurde, gibt es bei dem Thema politische Bewegung. Die Bundesregierung stellt eine Million Euro für eine Hauptstudie zur Verfügung.
Bisher konnten nur sieben Fälle von Zwangsadoption nachgewiesen werden. Unklar ist, wie viele es wirklich waren. Lindenberger und sein Team haben eine Berechnung angestellt, wonach 340 Fälle plausibel sein könnten. Laake glaubt, dass es sehr viele mehr sind.
Nicht klar ist bis heute, ob die Zwangsadoptionen ein von ganz oben im SED-Staat befohlenes Mittel der Repression gegenüber Missliebigen war und es dafür auch Anweisungen gab. Oder ob Jugendhilfemitarbeiter, mit Komplizen, auf eigene Faust handelten. Dies soll, mit verbesserter Akteneinsicht, in der Hauptstudie geklärt werden.
Täter, Anstifter und Mitwisser sieht Lindenberger unter vielen: Ärzten, Krankenschwestern, Polizisten, Offizieren des Ministeriums für Staatssicherheit, Richtern und Heimbetreuern. Froh, dass es jetzt mehr Aufklärung geben soll, ist Laake. "Das höchste Gut des Menschen ist sein Kind", meint er, "man kann die Adoptionen von damals nicht rückgängig machen. Aber die Eltern sollen wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist." (Birgit Baumann, 12.8.2021)