Geflohene Einwohner einer von den Taliban eingenommenen afghanischen Provinzhauptstadt.

Foto: AFP / Stringer

Kabul/Ankara – Die radikalislamischen Taliban haben die afghanische Provinzhauptstadt Ghazni nur 150 Kilometer vor den Toren Kabuls erobert. "Die Taliban haben die Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Stadt erlangt", sagte der Vorsitzende des Provinzrates, Nassir Ahmed Fakiri, der Nachrichtenagentur AFP am Donnerstag. Ghazni ist bereits die zehnte Provinzhauptstadt, die binnen einer Woche an die Islamisten fällt.

Zwischen Kabul und Kandahar

Die strategisch wichtige Stadt liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Die afghanischen Streitkräfte sind zunehmend von Verstärkung über den Landweg abgeschnitten. Mit dem Verlust von Ghazni dürfte der Druck auf die ohnehin überlastete Luftwaffe wachsen.

In den vergangenen Tagen hatten die Taliban unter anderem Kunduz und Faizabad eingenommen und belagern nun Mazar-i-Sharif. Bei einer Einnahme von Mazar-i-Sharif würde die Regierung in Kabul die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.

Parallel zum rasch fortschreitenden Abzug der US- und anderer Nato-Truppen aus Afghanistan hatten die Taliban in den vergangenen Monaten große Teile des Landes erobert. Die Miliz kontrolliert inzwischen mehr als ein Viertel der Provinzhauptstädte in Afghanistan.

Erdoğan sucht das Gespräch

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will mit der Führung der radikalislamischen Taliban nun über eine Deeskalation beraten. "Die jüngsten Entwicklungen und die Lage der afghanischen Bevölkerung sind wirklich sehr beunruhigend", sagte Erdoğan am Mittwoch dem TV-Sender CNN Türk. Die Türkei suche daher das Gespräch mit den Taliban. "Vielleicht werde ich sogar in der Lage sein, die Person zu treffen, die ihr Anführer ist", sagte Erdoğan.

Erdoğan hatte zuvor bereits angekündigt, Gespräche mit den Taliban über die Sicherung des Kabuler Flughafens zu führen. Ankara hatte sich grundsätzlich bereiterklärt, den internationalen Flughafen nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen aus dem Land abzusichern. Die Türkei fordert aber diplomatische, finanzielle und logistische Unterstützung der USA. Die Verhandlungen zwischen Ankara und Washington dauern an.

Deutschland droht mit Stopp von Hilfen

Der deutsche Außenminister Heiko Maas drohte indes mit einem Stopp der finanziellen Unterstützung für Afghanistan, sollten die Taliban dort ein Kalifat errichten. "Wir geben jedes Jahr 430 Millionen Euro. Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben, wenn die Taliban dieses Land komplett übernommen haben, die Scharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird", sagte Maas am Donnerstag im ZDF. Ohne internationale Hilfe sei Afghanistan aber nicht lebensfähig. Den Taliban sei klar, dass sie darauf angewiesen seien.

"Es wird nicht so sein, dass die Taliban dieses Land allein übernehmen, sondern sie wollen ein Teil der Regierung sein, sie wollen der mächtigere Teil der Regierung sein", sagte Maas. Es werde darum gehen, wie die Verfassung aussehen und welche Rechte es geben werde. "Soll das ein Kalifat werden? Das ist etwas, was wir nicht mittragen werden."

Abschiebungen und Ausreiseforderungen

Während Deutschland am Mittwoch bekanntgab, Abschiebungen abgelehnter Asylwerber vorerst bis Ende August auszusetzen, will Österreich weiter an Rückführungen festhalten. Angesichts des rasanten Eroberungszugs der Taliban forderte Deutschland am Donnerstag auch seine Bürger dringend zur zügigen Ausreise aus dem Krisenland auf.

Auch Frankreich hat am Donnerstag bekannt gegeben, bereits seit Anfang Juli keine Abschiebungen mehr nach Afghanistan durchzuführen. Das sagte eine Sprecherin des französischen Innenministeriums.

Vor dem Hintergrund der deutlich verschlechterten Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet, inklusive der Hauptstadt Kabul, rate die Botschaft allen deutschen Staatsangehörigen dringend zur schnellstmöglichen Ausreise per Linienflug, heißt es in einer vom Auswärtigen Amt versandten Nachricht. Das österreichische Außenamt hat bereits vor einiger Zeit eine Reisewarnung für ganz Afghanistan ausgesprochen und rät laut Website den im Land lebenden "Auslandsösterreichern und Österreichern, die sich aus anderen Gründen in Afghanistan aufhalten", "dringend", das Land zu verlassen.

Dänemark evakuiert Mitarbeiter

Dänemark gab am Donnerstag bekannt, seine lokal ansässigen Mitarbeiter in Afghanistan angesichts des Taliban-Vormarsches außer Landes zu holen. Sowohl aktiven afghanischen Angestellten der dänischen Botschaft in Kabul als auch früheren Mitarbeitern der Botschaft und des Militärs der vergangenen beiden Jahre bietet die Regierung an, sie mit ihren Partnern und minderjährigen Kindern nach Dänemark zu evakuieren. Darauf verständigte sich die Regierung in Kopenhagen mit allen Parlamentsparteien mit Ausnahme der rechtspopulistischen Parteien, wie das Außenministerium am späten Mittwochabend mitteilte.

Dänemark ist in den vergangenen 20 Jahren am Nato-Einsatz in Afghanistan beteiligt gewesen. Wie die Regierung erklärte, ergibt sich daraus ein Bedarf, sich ganz besonders für diejenigen einzusetzen, die Dänemark vor Ort zur Seite gestanden haben und wegen dieses Engagements nun in Gefahr sind.

Gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland hat Dänemark vergangene Woche die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt. Deutschland und die Niederlande gaben Anfang der Woche bekannt, diese angesichts der prekären Lage nun doch aussetzen zu wollen. (APA, AFP, Reuters, 12.8.2021)