In vielen EU-Ländern ist Wählen freiwillig, in Belgien, Luxemburg, Bulgarien, Zypern und Griechenland gibt es hingegen eine Wahlpflicht.

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So richtig zu begeistern vermögen Europawahlen eher selten. Zu wenig bekannt sind die kandidierenden Abgeordneten für viele, zu weit entfernt die Diskussionen innerhalb der Parlamente in Brüssel und Straßburg, scheint es. So waren die vergangenen EU-Wahlen vor allem von einem geprägt: einer relativ niedrigen Wahlbeteiligung. 2009 gaben 43 Prozent, 2014 42 Prozent und 2019 51 Prozent aller wahlberechtigten EU-Bürger ihre Stimme ab. Anders ausgedrückt: Wird in der EU gewählt, verzichten regelmäßig mehr als 200 Millionen Bürgerinnen und Bürger auf ihre Stimme.

Einigen EU-Verfechtern, die in einer niedrigen Wahlbeteiligung ein Problem für die Legitimierung des Parlaments sehen, ist das ein Dorn im Auge. Und auch für die beiden deutschen Europaaktivisten und Autoren Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer könnte die europäische Demokratie noch viel weiter gehen. In ihrem vor kurzem erschienenen Buch "Europe for Future" formulieren sie 95 Ideen, die Europa retten sollen – darunter der Vorschlag, eine Wahlpflicht bei Europawahlen einzuführen.

Politik lebendiger machen

Laut den Autoren hätte eine Wahlpflicht den Effekt, die Bedeutung der Politik und die Demokratie auf EU-Ebene zu stärken und lebendiger zu machen. Indem sich mehr Menschen an EU-Wahlen beteiligen, soll das Interesse an der EU-Politik wachsen. "Gäbe es eine Wahlpflicht, würden sich wieder mehr Menschen mit Politik beschäftigen und vielleicht wieder stärker und lösungsorientierter miteinander ins Gespräch kommen", sagt Martin Speer im Gespräch mit dem STANDARD. So könne sich schrittweise eine gemeinsame politische Kultur in ganz Europa entwickeln.

Die Europaaktivisten Martin Speer (links) und Vincent-Immanuel Heer setzen sich unter anderem für eine EU-weite Wahlpflicht ein.
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Neu ist die Debatte freilich nicht. Denn in einigen EU-Ländern, etwa Belgien oder Luxemburg, gibt es bereits offiziell eine Wahlpflicht. Dort war die Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich hoch. In Belgien stimmten rund 90 Prozent aller Wahlberechtigten bei den bisherigen Europawahlen ab, in Luxemburg rund 85 Prozent. Und auch in Österreich gab es in einzelnen Bundesländern, darunter Tirol, Vorarlberg, die Steiermark und Kärnten, einige Zeit eine Wahlpflicht bei Nationalratswahlen, die erst 1992 aufgehoben wurde.

Schiefe Repräsentation

Was in Österreich einigen Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschaftern als überholt gilt, hätte laut Herr und Speer einige weitere Vorteile. Eine Wahlpflicht soll laut den Autoren die schiefe Repräsentation in den Parlamenten korrigieren, da ältere, wohlhabendere und besser gebildete Menschen häufiger wählen gehen würden als jüngere, ärmere und weniger gut gebildete Menschen und Erstere daher gewissermaßen überrepräsentiert seien. "Wenn der Anteil derer, die wählen geht, immer kleiner wird, führt es dazu, dass immer weniger Menschen darüber entscheiden, was in der Politik geschieht", sagt Speer.

Gäbe es eine Wahlpflicht, müssten Politikerinnen und Politiker mehr auf sozial schwächere und andere unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen eingehen, so Herr und Speer. Einzelne und besonders privilegierte Wählergruppen würden infolge dessen weniger bevorzugt werden. Auch eine "politisch gewollte Demobilisierung" der Wähler, wie sie etwa der ehemalige US-Präsident Donald Trump betrieben habe, wäre dann nicht mehr so einfach möglich, schrieb Herr bereits vor einigen Jahren im "Tagesspiegel".

Sanktionen bei Fernbleiben

Und was tun mit jenen Menschen, die trotz Wahlpflicht nicht wählen gehen? In Belgien oder Luxemburg droht bei Fernbleiben von der Wahl eigentlich eine Geldstrafe. In der Praxis wird diese aber kaum mehr verhängt.

Gewisse Sanktionen beim Fernbleiben von der Wahl kann sich auch Speer vorstellen. "Das könnte in etwa so geregelt werden wie beim Falschparken." Beim ersten Mal gebe es eine Ermahnung durch einen Brief, das zweite Mal ein kleines Bußgeld, und beim dritten Mal könnten vielleicht Sozialstunden geleistet werden. Doch auch positive Anreize seien für die Autoren eine Option. Wer wählen geht, könne sich so beispielsweise die Gebühren bei der Verlängerung des Reisepasses sparen oder einen kleinen Steuervorteil erhalten.

Eingriff in Freiheitsrechte

Vielen Politikwissenschafterinnen und Menschrechtsexperten stößt es bei solchen Vorschlägen sauer auf. Immerhin bestehe eines der Grundrechte und eine der Freiheiten des Wahlrechts darin, nicht wählen zu gehen. Eine Wahlpflicht wäre laut vielen Experten ein massiver Eingriff in die Persönlichkeits- und Freiheitsrechte jedes Einzelnen. Zudem würden sich viele Bürgerinnen und Bürger von einer Wahlpflicht wohl bevormundet fühlen, so die Kritik.

Auch stellt sich die Frage, wie jene Menschen, die zuvor zur Gruppe der Nichtwähler gehörten, aufgrund einer Wahlpflicht plötzlich wählen würden und ob es durch eine Wahlpflicht überhaupt zu einer höheren Wahlbeteiligung käme. Sogenannte Eselsstimmen, bei denen Menschen einfach nach dem Zufallsprinzip wählen oder wie bei Rang-Wahlen die Kandidaten in derselben Reihenfolge nummerieren, wie sie auf dem Wahlzettel aufscheinen, sind schon jetzt vor allem in Ländern mit Wahlpflicht verbreitet.

"Es ist in vielen Fällen schwierig zu sagen, warum Menschen nicht zur Wahl gehen", sagt Sylvia Kritzinger, Wahlforscherin am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Es könne bedeuten, dass Menschen unzufrieden, nicht interessiert oder aber auch zufrieden sind. Würde man Menschen zum Wählen zwingen, wisse man nicht, wie diese wählen würden. Zudem gebe es viele Menschen, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht zur Wahl gehen können.

Möglichkeit zur Enthaltung

Auch Speer kennt die Kritik. Vor allem in Deutschland stoße der Vorschlag immer wieder auf großen Widerstand, auch aus der Geschichte heraus, sagt er. Statt Wahlpflicht spreche er ohnehin lieber von Wahlverantwortung, da der Begriff Wahlpflicht viele Menschen abschrecke.

Mit dem Argument der Freiheitsrechte habe er jedenfalls kein Problem. Schon jetzt greife der Staat mit Schulpflicht, Steuerpflicht und mancherorts mit der Wehrpflicht weit massiver in das Leben seiner Bürger ein als mit einer Wahlpflicht, sagt Speer. Zudem schlägt er ein Enthaltungsfeld auf dem Wahlzettel vor, mit dem Nichtwähler ihre Ablehnung aller Parteien kundtun können.

Menschen mit geringem Einkommen für Wahlpflicht

Dass sich an der grundsätzlichen Freiwilligkeit, an Wahlen teilzunehmen, EU-weit so schnell etwas ändern könnte, bezweifeln die meisten Experten. Immerhin ist es derzeit Sache der einzelnen Staaten zu entscheiden, ob es in ihrem Land eine Wahlpflicht gibt oder nicht. Aktuell könne die EU nur dafür plädieren, dass Mitgliedsstaaten Wahlrechtsanpassungen machen, so Speer. Gäbe es künftig eine stärkere EU, könnte sie die Wahlpflicht bei Europawahlen eines Tages vielleicht auch für alle Mitgliedsstaaten vorgeben, sagt er.

Auf Bevölkerungsebene stößt eine Wahlpflicht jedenfalls nicht nur auf Ablehnung. Laut einer vor kurzem erschienenen Umfrage des Pew Research Center geben rund zwei Drittel aller in Deutschland und Frankreich befragten Menschen an, dass es wichtig wäre, in ihrem Land eine Wahlpflicht einzuführen. In Deutschland sprachen sich vor allem Menschen mit geringem Einkommen für eine solche Maßnahme aus.

Politikwissenschafterinnen wie Kritzinger halten eine Diskussion über die Wahlpflicht aber für zu kurz gegriffen. "Wir sollten uns lieber über das Wählen insgesamt Gedanken machen", sagt sie. Dazu gehöre, eine bessere politische Bildung an Schulen anzubieten und eine stärkere Verbindung zwischen Wählerinnen und Wählern und Parteien zu schaffen. "Was wir beispielsweise am Brexit-Referendum gesehen haben, ist, dass vor allem die junge Wählergeneration abhandenkommt", sagt Kritzinger. Diese gelte es in Zukunft wieder stärker zu informieren und einzubinden. (Jakob Pallinger, 24.8.2021)