"Können Vögel menschliche Gefühle lesen?", das fragen sich Charlie und Yana in "Elsterjahre".

Foto: Sarah Lee

PROLOG

Irgendwo im Südosten Londons stürzt eine flugunfähige junge Elster zu Boden. Von unten ist schwer zu erkennen, wo genau sie herausgefallen ist. Ihr Nest könnte hoch oben in einer der Platanen sein, die diese vom Lastwagenverkehr ramponierte Straße säumen, eine hinter einem Schleier aus grünen Blättern verborgene buschige Laube.

Oder es könnte irgendwo im Gewirr der hier überall stehenden, vielfach ausgedienten Lagerhallen versteckt sein, ein vertracktes Gebilde aus Stöckchen und Matsch auf Wellblech und Asbest. Elstern bauen ihre Wohnungen in der Nähe von unseren, sichtbar zwar, aber außer Reichweite. Eine Elsterstadt, auf die unsrige aufgesetzt.

Es ist eine raue, vom Menschen arg misshandelte Gegend, in der dieser Vogel verfrüht gelandet ist. Reihenweise warten Wagen mit zusammengeschobenen Motorhauben und zersplitterten Windschutzscheiben vor dem nahegelegenen Autofriedhof auf ihre Verschrottung.

Illegal entsorgte Kühlschränke und Müllsäcke versperren als unbewegliche Felsblöcke die Bürgersteige. Pfützen aus öl- und benzinverseuchtem Frühlingsregen schillern purpurfarben, und darüber steigen Rauchschwaden aus den Schornsteinen einer riesigen, rund um die Uhr arbeitenden Müllverbrennungsanlage. Lastwagen donnern wie Gewitterwolken vorbei, und die Fußballfans vom Millwall FC brüllen fanatisch.

Die einzigen Tiere, die ich dort jemals gesichtet habe, sind Pitbulls und Ratten. Etwas weiter entfernt, bei der Müllkippe, gibt es allerdings Möwen- und Taubenschwärme und dazu ein Raubvogelgeschwader, schnittig wie Düsenjäger, das von dem Entsorgungsunternehmen dazu angestellt ist, die anderen Vögel zu vertreiben.

Pitbulls und Ratten

Die Werkstatt meiner Freundin Yana befindet sich gleich um die Ecke in einem maroden Fabrikgebäude am Rand des Schrottplatzes. Dies ist eine Gegend, wo die Stadt noch voller Geheimnisse und Überraschungen ist, doch selten sind sie süß und flauschig.

In der einen Woche entdeckt die Polizei bei einer Razzia in einem benachbarten Lagerhaus eine Cannabisplantage, in der nächsten gestohlene Motorräder; ein Freund öffnet einen seit langem herrenlosen Container, vollgestopft mit Jetski; ein Typ, mit dem ich vor einiger Zeit eine Gefängniszelle teilte, behauptete stolz, er habe hier abgesägte menschliche Glieder entsorgt. Es ist der letzte Platz auf der Erde, wo ich etwas so Dotterweiches und Vogelknochenzerbrechliches wie ein junges Vögelchen erwartet hätte.

"Elsterjahre" erzählt die Geschichte von einem aus dem Nest gefallenen Vogel.
Foto: Polly Samson

Das Geschöpf trippelt im Rinnstein umher, taumelt zum Bordstein wie ein die Gasse entlangtorkelnder Betrunkener. Elstern verlassen ihr Heim viel zu früh – lange bevor sie wirklich fliegen oder richtig für sich selbst sorgen können. Noch Wochen, nachdem sie ihr Nest verlassen haben, sind sie für Nahrung, Schutz und auch für die Erziehung auf ihre Eltern angewiesen. Doch die Eltern dieses Vogels sind nirgendwo zu sehen.

Weder füttern noch beobachten oder bewachen sie ihn; keine Warnrufe erklingen, als sich ein großer Spitzenprädator mit stahlkappenverstärkten Stiefelschritten nähert. Was nicht heißt, dass seine Eltern nicht in der Nähe sein könnten. Es muss auch kein unglücklicher Zufall sein, dass dieser Vogel sich auf dem Erdboden befindet. Falls das Futter knapp war, könnte eine grausame Lageeinschätzung stattgefunden haben – mit dem Ergebnis, dass die Familie nur dann den Lüften erhalten bleibt, wenn sie den Kümmerling aufgibt.

Vor 30 Jahren

Jetzt bewegt der Vogel sich nicht mehr. Er hockt im Rinnstein, zittert vor Flüssigkeitsmangel und vielleicht auch vor Angst. Wenn die Natur ihren gewohnten Lauf nimmt, wird er wahrscheinlich noch vor Ende des Tages sterben. Das beängstigende menschliche Wesen, groß wie ein Baumstamm, nähert sich, schwankt, zögert, und dann wird mit leisem Rascheln die Welt des Vogels schwarz.

Gut dreihundert Kilometer weiter westlich und drei Jahrzehnte früher stürzte eine junge Dohle aus ihrem Nest im Turm einer Dorfkirche. Mit ihren stahlgrauen Federn, dem gelben Schnabel und einem verletzten Flügel schleppte sie sich auf dem Fußboden entlang. Dohlen und Elstern gehören zur selben Familie, den Rabenvögeln. Alles Aasfresser.

Irgendjemand, vielleicht der Pfarrer, hat den verletzten jungen Vogel gefunden, in eine Schachtel gesetzt und zu einer Dorfbewohnerin, einer Hobbyheilerin, gebracht. Von dort fand die Dohle ihren Weg in die Hände des Mannes, der mein Vater werden sollte. Die Elster findet ihren Weg zu mir.

Kapitel 1: Stoppelfedern

Yana stellt die Pappschachtel mit ihrem kostbaren Inhalt sehr sanft auf den Fußboden unseres Schlafzimmers. Ihre Schwester habe das Geschöpf am Morgen gefunden, erklärt sie, es aufgehoben und zu ihnen in die Werkstatt gebracht. Zwischen Hämmern und Bohren hätten sie es mit lebendigen Raupen aus dem Laden für Anglerbedarf gefüttert. Die Raupen würden beißen, fährt Yana sachlich fort, deshalb müsse man die Köpfe mit einer Zange oder dem Fingernagel ein bisschen zerdrücken, ehe man sie in den Schnabel des Vogels schiebt. Sie klappt die Schachtel auf.

Ein schwarz-weißer Flaumball von der Größe einer Kinderfaust hat sich in einer Ecke zusammengekauert. Er sieht tot aus. Er riecht tot. Ich schnalze mit der Zunge, und eines seiner Augenlider öffnet sich flatternd. Das Auge ist metallisch blau.

Ich versuche, im Geiste alles aufzurufen, was ich über Elstern weiß. Als Erstes fällt mir der Kinderabzählreim "One for Sorrow" ein und dann, dass meine Mutter auf der Farm, wo ich aufgewachsen bin, jede Elster, die ihr in den Blick kam, gewissenhaft grüßte, um das Unglück, das diese Vögel angeblich bringen, abzuwehren. Sicher ist sicher, denke ich und berühre meine Schläfe mit der Hand, während ich in die Schachtel spähe.

Kluge Vögel

Yana sagt, es seien kluge Vögel – sehr kluge, so wie alle Mitglieder der Rabenfamilie –, auch wenn ich mich zu erinnern meine, dass sie von vielen Menschen nicht gemocht werden, aus Gründen, die ich nie ganz verstanden habe. Angeblich sollen sie Singvogelbabys fressen und Umgang mit dem Teufel pflegen. Und es heißt, sie besäßen ein Piratenauge für gestohlene Schätze – nach einem verlorenen Ehering solle man also im nächstgelegenen Elsternnest suchen. Außer dass ich sie grüße, wüsste ich nicht, was mit ihr anzustellen wäre.

Charlie Gilmour erzählt auch die Geschichte von der Suche nach seinem leiblichen Vater.
Foto: Polly Samson

Ich habe mich früher als Kind schon reichlich hilflos um verletzte Tiere gekümmert, es zumindest versucht: Geschöpfe, die Katzen anschleppten, halb tote Eichhörnchen, Vögel, die sich ihr Hirn an Fensterscheiben ziemlich zermatscht hatten. Egal, was man unternimmt, irgendwie scheinen alle schließlich am gleichen Ort zu enden: in einem Schuhkarton in einem nicht sehr tiefen Grab.

Selbst gesunde Tiere hatten in meiner Obhut nicht allzu viel Glück. Schuldbewusst denke ich an die wunderschönen weißen Tauben, die wir vor Jahren hatten und die meine Großmutter, meine Mutter und ich pastellrosa einfärbten und auf der Farm freiließen – worauf sie prompt vom Fuchs verschlungen wurden, als wären sie Zuckerwatte.

Von daher fürchte ich, dass ich, wenn ich diesen kleinen Flaumball gefunden hätte, versucht gewesen wäre, ihn im Rinnstein seinem Schicksal zu überlassen. Ich weiß nicht, was wir für ihn tun können, außer womöglich sein Leiden zu verlängern.

So eine Art Elster

Vom Vogel blicke ich zu Yana. Sie trägt wie üblich ihre Arbeitskleidung, einen dunkelblauen, farbbeklecksten Overall und schwere Stiefel. Ihre hellbraunen Haare sind auf eine präzise, strenge Weise mit Klammern festgesteckt, was ihre hohen, ausgeprägten Wangenknochen noch stärker betont. Sie hantiert schon mit der Kneifzange. Ich sehe zu, wie sie mit dem Metallschnabel nach einer sich windenden gelben Raupe schnappt und ihren Kopf einklemmt. Bleicher Glibber tritt an beiden Enden des Unglückswesens aus, während Yana mit der Zange verführerisch vor dem Elsterbaby herumwedelt.

Das ist bezeichnend für Yana. Sobald sie etwas Beschädigtes entdeckt, muss sie es aufheben und reparieren. Ich vermute, dass sie selbst so eine Art Elster ist; nicht direkt eine Diebin, aber mit Sicherheit eine Sammlerin gefundener Schätze. Sie hat immer einen Schraubenzieher dabei und überlegt selten zwei Mal, ob sie weggeworfene Leuchtkörper, Marmorplatten oder gewaltige Säcke voller Krempel, den sie am Themseufer gefunden hat, zu uns nach Hause schleppen soll.

Neigung zum Selbermachen

Unsere Wohnung ist voll von Dingen, die sie selbst gebastelt oder repariert hat: angefangen von Regalen über Becher und Messer bis hin zu den Stühlen, auf denen wir sitzen, und den Hosen, die ich trage. Besondere Freude bereitet es ihr, Dinge an die Decke zu hängen. Im Wohnzimmer klimpert jedes Mal, wenn große Fahrzeuge vorbeifahren, ein Kronleuchter, den sie aus spitzen gläsernen Stalaktiten gefertigt hat, und eine Skulptur aus Bambus, Kordel und hängenden Ranken über unserem Bett hat unser Zimmer in einen Dschungel verwandelt.

Sie führt ihre Neigung zum Selbermachen darauf zurück, dass sie mit fünf Geschwistern in einer lebhaften Migrantenfamilie aufgewachsen ist. Ihre Eltern flohen mit ihren Kindern und allem, was sie sonst noch tragen konnten, aus der Ukraine nach Schweden, kurz bevor hinter ihnen die Sowjetunion zusammenbrach. Es war insgesamt eine chaotische Situation, und wer das Talent besaß, selbst für seine Kleidung und auch für sein Vergnügen zu sorgen, war eindeutig im Vorteil.

Mitten im Nestbau

Ich habe Yana vor zwei Jahren bei einer Party in einer stillgelegten Autowaschanlage kennengelernt. Mit wasserstoffblonden Haaren und dämonisch rotem Augen-Make-up tauchte sie hinter einem Betonpfeiler auf und hatte mich mit nur einem kurzen Blick am Haken.

Später nahm sie mich mit in ihre Wohnung und zeigte mir ihre Albinoschlange, ihre Orchideenmantis und ihre Sammlung eigenhändig hergestellter Messer. Nicht lange danach sind wir zusammengezogen und waren schnell verlobt. Es ging alles derart schnell, dass ich eigentlich nicht genau weiß, wie ich an diesen Punkt gelangt bin.

Gelegentlich fühle ich mich ein bisschen wie eines ihrer aufgelesenen Objekte. Jedenfalls habe ich mir nie vorgestellt, dass ich mich in meinen Zwanzigern schon fest niederlassen würde. Ich hatte doch eben noch einen rasierten Schädel und zerschrammte Knöchel und steuerte geradewegs auf einen Absturz zu. Und jetzt scheine ich mich kurz vor der Heirat und mitten im Nestbau zu befinden.

Argwöhnisches Traumwesen

Manchmal bin ich überzeugt, dass ich die ganze Geschichte nur träume, und ich brauchte nur aufzuwachen, und alles wäre verschwunden. Zu anderen Zeiten scheint das Gegenteil wahr zu sein: dass ich nach einem langen, erschöpfenden Albtraum allmählich wieder das Bewusstsein erlange. Ich weiß nicht, ob es Yanas Bereitschaft, sich um alles Beschädigte zu kümmern, ist, die mich für sie attraktiv gemacht hat – irgendwie bezweifle ich das. Aber mit Sicherheit gehören ihre Stärke, ihre Stabilität und ihre Unverwundbarkeit zu den Eigenschaften, die sie für mich anziehend gemacht haben.

Nun ist dieser Pechvogel bei uns gelandet. Ein Traumwesen, das Yanas sterbende Raupe argwöhnisch aus ihrer Ecke in der Pappschachtel betrachtet. Jetzt sind seine beiden Augen geöffnet. Blau. Ich wusste nicht, dass die Augen einer jungen Elster blau sind. Alle Elstern, die ich bisher beobachtet habe, wenn sie auf Bäumen krächzten oder am Straßenrand Kadaver auseinanderrissen, müssen erwachsen gewesen sein, ihre Augen glitzerten in der Farbe von Obsidian.

Während die Augen dieses Vogels ganz und gar unverschlossen sind, bleibt sein scharfer schwarzer Schnabel hartnäckig geschlossen, so sehr Yana ihn auch zu locken versucht. Sie murmelt etwas, das wie "blöde Elster" klingt, und legt ihre kleine Zange weg. In mir keimt der Verdacht, dass die Reparatur dieses angeschlagenen kleinen Vogels selbst ihre heilenden Kräfte übersteigen wird.

Der nächste Versuch

"Kann sich nicht jemand anders darum kümmern?", sage ich. "Ein Tierarzt zum Beispiel?" Yana verdreht die Augen, als hätte ich gerade vorgeschlagen, wegen einer Glühbirne den Elektriker zu bestellen. Was, ehrlich gesagt, haargenau das ist, was ich machen würde – der Glühbirne zuliebe. Wenn Yana Ordnung repräsentiert, dann bin ich Chaos. In meinen Händen scheinen die Dinge auseinanderzufallen, und dieser Vogel ist viel zu zerbrechlich.

Yana wedelt mich beiseite und greift wieder zur Zange. Sie zerdrückt eine neue Raupe und startet den nächsten Versuch bei der Elster, diesmal, indem sie komische, hohe, zirpende Laute ausstößt und mit ihrem Metallschnabel klackert – genauso wie es eine Elsternmutter in der freien Natur machen würde, behauptet sie. In einem plötzlichen Anfall von Energie springt der Schnabel auf, und der Vogel beginnt wie ein kochender Wasserkessel zu pfeifen.

Knochenporzellan mit einer Federboa

Yana lässt die Raupe in den leuchtend rosafarbenen Schlund des Vogels fallen, und mit einem einzigen Schluck ist sie verschwunden. Offensichtlich steckt noch Leben in dem Geschöpf. Yana reicht mir eine Raupe aus dem Plastikgefäß in ihrer Werkzeugtasche. "Du bist dran", sagt sie, und die Raupe ruckelt, gelb und leicht behaart, quer über meine Handfläche, wie ein abgeschnittener Zeh, der noch zuckt.

Ich zerquetsche den Kopf mit der Zange, und dann spiele ich Mutter. Wie eine verlässliche Kuckucksuhr reißt der Vogel den Schnabel weit auf. Seine Zerbrechlichkeit macht mir Angst. Knochenporzellan mit einer Federboa. Zitternd schiebe ich die sich reflexhaft windende Raupe in seinen Schnabel und warte, dass er mampft, doch der Vogel schreit einfach weiter, und die Raupe rollt wieder raus.

"Du musst sie richtig reinschieben", sagt Yana und sticht mit dem Zeigefinger in die Luft.

Ich lege die Zange weg. Ich kann solch ein hartes Metallgerät nicht bei etwas derart Weichem und Zartem benutzen. Stattdessen schiebe ich die Raupe mit der Fingerspitze an den Rand der schwarzen Vogelkehle. Das Gekreische des Vogels wird heftiger und verwandelt sich dann zu einer Art koboldhaftem Mhhmm-mhhmm, während die Peristaltik einsetzt und den Wurm nach unten befördert.

Aber der Vogel hört noch nicht auf. Ich spüre, wie die starken ringförmigen Muskeln seiner Speiseröhre konvulsivisch gegen meine Fingerspitze pressen, während er versucht, mich ebenfalls zu verschlucken. Rasch ziehe ich die Hand zurück. Der Vogel zirpt, steckt den Kopf seitlich neben seinen Flügel und schläft wieder ein.

"Und nun?", frage ich.

"Mehr Würmer besorgen", erwidert Yana. "Ich glaube, wir müssen ihn alle zwanzig Minuten füttern, und wir haben schon bald keine mehr." (Charlie Gilmour, ALBUM, 14.8.2021)