Lashkar Gah, die Hauptstadt der Provinz Helmand, wurde am Freitag von den Taliban erobert.

Foto: EPA/STRINGER

Mit dem Vormarsch der Taliban kommen auch Frauenrechte in Gefahr. Im Bild: Mädchen in einer Schule in der Stadt Herat noch im Juli. Am Donnerstag eroberten die Taliban die Provinzhauptstadt.

Foto: EPA/JALIL REZAYEE

Auf den Abzug internationaler Truppen reagierten die Taliban mit einem beispiellosen Vormarsch in Afghanistan: Binnen einer Woche eroberten die radikalen Islamisten eine Provinzhauptstadt nach der anderen, zuletzt fielen unter anderem Herat, Kandahar und Lashkar Gah.

Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe, die USA und Großbritannien schicken Spezialkräfte ins Land, um die Ausreise ihrer Staatsbürger zu unterstützen. Und jene Afghaninnen und Afghanen vor Ort, die die Taliban nicht unterstützen? Sie fürchten den Zusammenbruch der Regierung – und um ihr Leben. Sechs Betroffene schilderten dem STANDARD ihre Situation. Die Namen der Beteiligten werden aus Sicherheitsgründen nicht genannt, ebenso sind Details über Beruf, Wohnort und Angehörige auf ein Minimum reduziert, um Erkennbarkeit zu verhindern.

Richterin in einer kürzlich von den Taliban eroberten Stadt: "Die USA lassen uns im Nirgendwo allein"

Ich arbeite als Richterin, ich bin zuletzt nur zum Gericht gekommen, um die dringendsten Dinge zu erledigen, und so schnell wie möglich wieder gegangen. Mein Kleinkind hat das Haus in den vergangenen fünf Wochen nicht verlassen.

Richterinnen und Richter sind ein klares Ziel der Taliban, wir bekommen Morddrohungen, ich bin besorgt um meine Sicherheit. Die Taliban haben öffentlich dazu aufgerufen, Richter zu töten und ihre Ehefrauen zu Sklavinnen zu machen. Sie wissen nicht genug über den Islam: Sie glauben, die Religion verbietet Frauen, Richterinnen zu sein, aber das stimmt nicht. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, jetzt, da die Taliban die Stadt eingenommen haben. Was sollen wir machen? Wo sollen wir hin?

Ich bin sehr enttäuscht von den Vereinigten Staaten. Präsident Joe Biden hat natürlich recht, dass die US-Armee nicht für immer für unser Land kämpfen kann, aber die afghanische Armee ist nicht in der Lage, das Land zu verteidigen. Es fühlt sich wie eine halbe Freundschaft an – Freunde, die einen nicht bis zum Ende, sondern nur auf dem halben Weg zum Ziel begleiten.

Nach meinem Abschluss wurden wir von der US Agency for International Development (USAID) ermutigt, Richterinnen zu werden. Nun lassen sie uns mitten im Nirgendwo allein.

Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich nicht dafür entschieden, Richterin zu werden und mein Leben in Gefahr zu bringen. Dann wäre ich vielleicht Übersetzerin geworden. Die werden jetzt von den Amerikanern mitgenommen. Wir bleiben zurück.

***

NGO-Mitarbeiter in Mazar-i-Sharif: "Es ist nirgends mehr sicher"

Bis auf Mazar-i-Sharif ist im Norden eigentlich alles unter Kontrolle der Taliban. Zuletzt haben sich hier politische Parteien versammelt, um für den Kampf gegen die Taliban zu mobilisieren. Das sind gute Nachrichten. Aber wir sind dennoch nicht optimistisch, weil die Taliban zuletzt sehr stark waren. In wenigen Tagen haben sie eine Provinzhauptstadt nach der anderen eingenommen.

Die Vororte von Mazar-i-Sharif sind menschenleer, hier fanden bereits Evakuierungen statt. In der Stadt gibt es noch keine Kämpfe, die Menschen versuchen ihrer Arbeit nachzugehen. Sie haben Angst, überprüfen immer wieder Nachrichten, um zu wissen, was los ist, wer in die Stadt kommt. Wie werden uns die Taliban behandeln? Werden sie uns verletzen?

Vor ein paar Tagen hat die humanitäre NGO, für die ich tätig bin, ihre Arbeit eingestellt. Eine NGO in Mazar-i-Sharif, bei der ich früher war, bittet das weibliche Personal, nicht zur Arbeit zu kommen – weil sie um dessen Sicherheit besorgt ist. Die Taliban greifen Bereiche an, wo Frauen tätig sind. Ich bin derzeit alleine, meine Frau ist mit unserem kleinen Kind bei Verwandten im Westen des Landes. Wir warten ab, wie sich die Lage entwickelt. Vorerst werden sie nicht zurückkommen, weil vielleicht jemand weiß, dass ich bei einer ausländischen NGO arbeite. Ich will ihr Leben nicht in Gefahr bringen.

Ich fühle mich von internationalen Truppen nicht betrogen, aber solche Entschlüsse müssen überdacht werden. Wir haben eine solche Entscheidung der internationalen Truppen nicht erwartet, weil sie so viel erreicht hatten. All das ist nun verloren oder dabei, verlorenzugehen. Viel Geld wurde investiert, und alles wird umsonst gewesen sein.

Wer die Möglichkeit hatte, hat das Land verlassen oder ist nach Kabul gegangen. Die Zahl der im Land Vertriebenen ist stark angestiegen. Ich habe keine Chance, das Land zu verlassen, die Botschaften haben ihre Arbeit eingestellt, für "normale" Afghanen gibt es keine Visa. Ich überlege derzeit auch nicht, in andere Provinzen zu fliehen. Selbst Kabul ist nicht sicher, auch dort gab es zuletzt Angriffe und Explosionen. Ich könnte hier sterben, ich könnte dort sterben – aber lieber sterbe ich zu Hause.

***

Ehemaliger Angestellter in Südafghanistan: "Die Menschen haben diese Kriege satt"

Ich überlebe irgendwie, aber in absoluter Angst. Ich bin allein zu Hause und stecke im Keller fest, weil die Kämpfe zuletzt viel näher gekommen sind. Die Frontlinie zog in die Städte, und es kommt zu Straßenkämpfen. Ich wohne kaum ein paar Kilometer von der neuen Front entfernt, und wir hören ständig Schüsse und Bomben. Ich habe meine Familie zu meinem etwas weiter entfernten Elternhaus gebracht und versuche, in meinem Haus zu bleiben, um es zu schützen. Die Angst in der Stadt ist groß, und niemand weiß, was passieren wird. Die Telefonleitungen sind den ganzen Tag unterbrochen, wir haben nur wenige Stunden am Tag Strom, abends ist die ganze Stadt eine Geisterstadt. Ich habe Angst, dass sich die Kämpfe weiter verschärfen und die Innenstadt erreichen.

Ich habe bis vor einem Monat für einen lokalen Unternehmer gearbeitet, wegen der Verschlechterung der Sicherheitslage kann ich nicht zur Arbeit gehen. Ich werde auch nicht bezahlt. Ich befürchte, dass die Lebenserhaltungskosten noch weiter steigen werden und ich kein Geld für meine Familie verdienen kann.

Es war klar, dass die ausländischen Truppen eines Tages Afghanistan verlassen werden, wir fühlen uns von unserer Regierung im Stich gelassen. Die Menschen haben diese Kriege satt, sie haben uns nur Zerstörung und Kummer gebracht. Der tägliche Handel wurde durch die Kämpfe stark beeinträchtigt, die Menschen haben große Sorgen, wie sie ihre Kinder und ihre Familie ernähren und schützen können. Die Leute wollen Stabilität und Sicherheit, sie wollen Brot für ihre Kinder auf dem Tisch haben.

***

Lehrerin in einer kürzlich von den Taliban eroberten Stadt: "Der Regierung ist nicht zu trauen"

Die Menschen haben keine Hoffnung mehr. Die ausländischen Kräfte, die Afghanistan politisch verändern wollen, sind nicht ehrlich. Sie sagen, dass sie Frieden bringen wollen, aber sie halten den Krieg aufrecht. Wenn die Taliban die komplette Kontrolle über das Land haben, kommen eben wieder andere und mischen sich ein. Der derzeitigen Regierung ist aber auch nicht zu trauen.

Ich arbeite im Moment nicht, die Schulen sind seit drei Wochen zu. Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich bald wieder arbeiten kann. Am meisten sorge ich mich um mich und meine Familie, um die Zukunft meines Kindes. Nach meinem Schulabschluss vor über 20 Jahren habe ich mich eigentlich für Journalismus interessiert, aber die Taliban waren an der Macht, deshalb habe ich jung geheiratet, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Ich weiß nicht, wann dieser Krieg beendet sein wird.

***

Arzt in einer kürzlich von den Taliban eroberten Stadt: "Ich sorge mich um meine Tochter"

Den Menschen in meiner Stadt geht es nicht gut, sie haben Angst und machen sich Sorgen. Die Kämpfe zwischen den Taliban und den Regierungstruppen sind zuletzt immer näher gekommen, in diesen Tagen wurden unsere Befürchtungen wahr, und die Taliban haben die Stadt eingenommen. Schon zuvor haben wir so wenig wie möglich das Haus verlassen, nur wenn es unbedingt nötig war.

Ich arbeite in einem Spital, die meisten Verletzten sind mittlerweile Zivilisten, Frauen, Kinder. Die Gesundheitsversorgung ist nicht sehr gut. Früher hatten wir zumindest stabile Stromversorgung, vor ein paar Tagen fiel mitten in einer Operation mehrmals der Strom aus.

Früher bin ich rasiert und im Anzug zur Arbeit gekommen, das hat sich geändert. Im Krankenhaus versuche ich, keine politischen Themen anzuschneiden.

Ich habe Angst vor den Taliban und dem Krieg in der Stadt. Wohin können wir entkommen? Alle Provinzen sind betroffen.

Ich habe Angst um meine jugendliche Tochter. Die Schulen sind seit mehr als drei Wochen geschlossen, sie erhält derzeit keine Ausbildung. Sie bekommt Nachrichten von Freunden und Verwandten mit, dass die Taliban Mädchen aus ihren Familien reißen und zwangsverheiraten. Sie kam in den letzten Tagen mehrmals weinend zu mir, weil sie solche Angst hat. Wir haben versucht, ein gewisses Maß an Sicherheit in unserem Haus zu gewährleisten. Unsere Tochter bleibt zu Hause.

Ich hoffe auf einen endlich nachhaltigen Frieden in Afghanistan, der nicht nur zeitweise hält. Uns bleibt nichts, außer zu beten.

***

Angestellte in Kabul: "Wir fürchten uns vor sexueller Gewalt"

Mein Tagesablauf hat sich nicht sehr verändert, außer dass sich die Sorgen verdoppelt haben. Ich arbeite weiter, weil ich eine sechsköpfige Familie habe, die auf mich und mein Einkommen angewiesen ist. In Kabul ist die Gefahr von Entführungen, gezielten Tötungen und Kriminalität in den vergangenen Monaten dramatisch gestiegen.

Es herrscht Angst vor einer Verschlechterung der Sicherheitslage; und davor, dass die Provinzen in die Hände der Taliban fallen. Das ist beunruhigend, insbesondere für Frauen. Die größte Angst, die wir haben, ist das Risiko sexueller Gewalt. Es gibt Gerüchte über solche Gräueltaten, die in anderen Teilen des Landes von bewaffneten Männern begangen wurden. Diese Woche haben wir Verwandte bei uns, die aufgrund der Kämpfe aus dem Norden vertrieben wurden. Wir wissen nicht, wie lange sie bleiben, sie haben alles hinter sich gelassen.

Ich habe Angst, dass die Taliban auch in Kabul Macht gewinnen und ich das Land nicht verlassen kann. Ich sehe, dass die Mittelschicht kleiner wird. Sie denken entweder über eine Flucht nach, oder ihre Wirtschaftskraft ist so stark reduziert, dass sie ihr Leben nicht mehr aufrechterhalten können. Die Preise für lebensnotwendiges Essen sind massiv gestiegen.

Der Abzug der USA kam abrupt. Die Notlage der Frauen Afghanistans ist völlig vergessen. Die kleinen Fortschritte der letzten 20 Jahre werden zunichtegemacht. Niemand hier will die Taliban, alle wissen, wozu sie fähig sind. Auf der anderen Seite haben die Leute diese korrupten Beamten und Kriegsherren satt. Sie sind auch keine Alternative. Die Menschen sorgen sich darum, ihre Familie zu ernähren und zu schützen.

Alle reden über Ausreise, das ist Thema Nummer eins. Ich weiß, dass die meisten in meiner Großfamilie heimliche Vorkehrungen getroffen haben, um das Land zu verlassen. Leider ist das nicht so einfach. Es ist kein gutes Gefühl, dass Menschen aus der Umgebung gegangen sind oder gehen wollen. Das gibt einem das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Auch ich habe an Flucht gedacht. Es gibt keine Lebensperspektive in diesem Land, ich glaube nicht, dass sich die Situation verbessern wird. Jeder, der die Möglichkeit hat, will weg. Was würden Sie an meiner Stelle tun?

(Protokolle: Noura Maan, 13.8.2021)