"Als alter weißer Mann habe ich kein Recht, einen 19-jährigen Tänzer mit schwarzer Hautfarbe zu korrigieren": Regisseur Jan Lauwers

Foto: Salzburger Festspiele

Ein Protest gegen Rassismus, Intoleranz, Unterdrückung: Als Intolleranza 1960 vor 60 Jahren bei der Biennale von Venedig uraufgeführt wurde, störten Neofaschisten die Veranstaltung. Neben dem Don Giovanni ist Luigi Nonos radikale kapitalismuskritische Oper die einzige Neuproduktion bei den Festspielen. Premiere ist am Sonntag, es dirigiert Ingo Metzmacher, Regie führt der Belgier Jan Lauwers.

STANDARD: "Intolleranza 1960" bei einem der weltweit elitärsten Festivals. Ein programmierter Skandal?

Lauwers: Als mich Markus Hinterhäuser fragte, ob ich Intolleranza in Salzburg machen wolle, habe ich ihn in der Tat gefragt, ob er sicher sei, diese Oper bei den Festspielen zeigen zu wollen. Der Widerspruch ist offensichtlich. Man kann keine Light-Version dieser Oper inszenieren. Sie ist heute noch gefährlicher als bei der Uraufführung 1961.

STANDARD: Das müssen Sie erklären.

Lauwers: Wir leben in der Zeit von Black Lives Matter, weltweiten Migrationsbewegungen, dem Klimawandel. Mich interessiert nicht der Skandal. Ich will eine Diskussion anfachen, ich will provozieren. Das ist die Rolle eines politischen Künstlers heute. Wenn ich in die Rolle eines Aktivisten schlüpfen will, dann mache ich das. Aber auf der Bühne bin ich Künstler, und Kunst muss ambivalent sein, sie darf im Namen von Politik keine Kompromisse eingehen.

STANDARD: Nono war Kommunist und Aktivist, er scheint genau gewusst zu haben, was wahr ist und was falsch.

Lauwers: Nono war ein großartiger Komponist. Seine Musik ist viel stärker als seine politischen Botschaften. "Faschismus" zu schreien ist eine recht einfache Sache. Wenn Nono seine Botschaft mit schwacher Musik unterlegt hätte, dann wäre dieses Werk schon lange in Vergessenheit geraten. Nonos Musik kann man nicht singen, man kann nicht zu ihr marschieren. Der Chor der Wiener Staatsoper ist der erste in der Geschichte, der diese Musik auswendig gelernt hat. Sie haben dafür eineinhalb Jahre gebraucht, es war fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Über 200 Protagonisten gibt es in der Neuinszenierung von "Intolleranza 1960" in der Felsenreitschule. Sie werden alle ständig auf der Bühne sein – und permanent in Bewegung.
Foto: Festspiele

STANDARD: Die Oper ist ein Aufruf zu einer selbstbestimmten Gestaltung der Gesellschaft. Wie heutig ist sie?

Lauwers: Ich habe einen Monolog über die Vulgarität der sozialen Medien geschrieben. Die banalste Form von Intoleranz ist für mich heute dort auszumachen. Schauen Sie sich nur an, wer die berühmteste Dichterin heute ist: Amanda Gorman, die zur Inauguration von Joe Biden gesprochen hat. Dabei hat niemand ihre Gedichte gelesen. Der Schriftsteller Octavio Paz hat einmal gesagt: Ein Gedicht muss autonom sein, sich von seinem Schaffer lösen. Gorman kennt jeder, niemand ihr Gedicht. Das ist für mich vulgär. Ich habe zwischen den zwei Teilen der Oper die Figur eines blinden Dichters hinzugefügt, der den Monolog vorträgt.

STANDARD: Nono hat Texte von Sartre bis Brecht in sein Libretto eingefügt. Sehen Sie sich als jemand, der seine Oper in die Jetztzeit weiterschreibt?

Lauwers: Ich bin kein Ikonoklast. Natürlich kann man über die Qualitäten von Majakowski, Sartre oder Brecht diskutieren. Sie alle haben Nono inspiriert, und er hat ihre Texte verwendet, aber soll ich mich jetzt hinstellen und Sartre oder Brecht korrigieren, nur weil sie Kommunisten waren und wir heute glauben, es besser zu wissen? Man muss die Zeit mitdenken. Es gibt ein Foto von Brecht an seinem Schreibtisch, und an der Wand steht: Es ist schwierig, jeden Tag zornig zu sein. Dieses Bild inspiriert mich. Als Künstler muss man jeden Tag zornig sein! Weil Sie mich gefragt haben, warum ich Nono in Salzburg inszeniere: Weil ich zornig bin.

STANDARD: Wie weit gehen Sie in Ihrem Zorn?

Lauwers: In den letzten Proben fast zu weit. Als ich einen Schritt zurückmachen wollte, haben sich die Sänger widersetzt. Wir gehen an stimmliche und körperliche Grenzen. Es gibt die Szene, in der der Protagonist von der Polizei gefoltert wird, beinahe 20 Minuten lang. Während der Proben hat das einige Performer fast an ihre emotionalen Grenzen gebracht. Jetzt, einige Tage vor der Premiere, beschäftigt mich Tag und Nacht die Frage: Können wir die Folterszenen wie geplant zeigen oder nicht?

STANDARD: Sie kritisieren die sozialen Medien. Haben wir Ihnen nicht auch vieles zu verdanken? Sie sind ein demokratisches Medium, jeder kriegt eine Stimme.

Lauwers: Ja, natürlich, die Revolution in Nordafrika oder Black Lives Matter wäre ohne die sozialen Medien nicht möglich gewesen. Die Frage ist aber: Wie lang währt dieses positive Moment, und wann wird das Medium komplett vulgär? Google entscheidet, ob einem erlaubt ist zu sprechen oder nicht. Da gibt es keine Demokratie.

Jan Lauwers fügt der Oper die Figur eine blinden Poeten hinzu.
Foto: Festspiele

STANDARD: "Intolleranza 1960" ist die Geschichte eines Flüchtlings, angestoßen vom Algerienkrieg. Heute gibt es weit mehr Migrationsbewegungen.

Lauwers: Für mich ist das das zentrale Thema. Mein Konzept besteht darin, dass keiner auf der Bühne stillsteht. Nicht für einen Moment. Ständige Bewegung zeichnet Migranten aus. In Brüssel arbeite ich mit einer Organisation für Flüchtlinge mit dem Namen Cinemaximiliaan. Zwei syrische Flüchtlinge, die wir betreuen, nahmen am Brüssel-Marathon teil. Als sie nach 42 Kilometer im Ziel von Kameras empfangen wurden, zeigten sie sich verwundert. Wir sind doch nur 42 Kilometer gerannt, sagten sie, wo waren die Kameras, als wir 5000 Kilometer zurückgelegt haben?

STANDARD: Migration ist ein sehr komplexes Thema, Schwarz-Weiß-Denken führt oft nicht weiter.

Lauwers: Migranten verlieren ihre Identität, ihre Geschichte und ihre Geschichten. Menschen hören dadurch auf zu existieren. Im Monolog, den ich für den blinden Dichter geschrieben habe, heißt es einmal: Es gibt keine Erzählungen mehr, weil man eingesperrt im Container stumm sein muss. Wir tolerieren die Geschichten von Menschen nicht mehr, auch das ist Intolleranza 2021.

STANDARD: Sie haben Salzburg als ein "Ghetto des Weißseins" bezeichnet – ein schwieriger Resonanzraum für eine Inszenierung der Oper.

Lauwers: Gegen diesen Umstand kann ich nicht viel unternehmen. Nachdem sowohl der Regisseur als auch der Dirigent weiß sind, habe ich verlangt, dass zumindest der Cast der Oper so divers wie möglich ist. Das hat einen sehr direkten Einfluss auf die Inszenierung. Ein afrikanischer Sänger entschied sich, während der Folterung den Satz "I can’t breathe" zu zitieren. Ich lasse alle Reaktionen zu.

Im Cast der Neuinszenierung befinden sich Protagonisten aus über 20 Nationen.
Foto: Festspiele

STANDARD: In der Diskussion über Cultural Appropriation wird von manchen Minoritäten verlangt, dass nur sie das Recht haben, ihre Erfahrungen zu thematisieren. Bedeutet das nicht das Ende von Kunst?

Lauwers: Vielleicht einer bestimmten Kunst. Wenn Menschen von ihren Rassismuserfahrungen sprechen, halte ich den Mund. Als alter weißer Mann habe ich kein Recht, einen 19-jährigen Tänzer mit schwarzer Hautfarbe zu korrigieren. Ich habe solche Erfahrungen nicht gemacht. Bei einer Probe erzählte der Sänger Musa Ngqungwana davon, wie er von der Polizei angehalten wurde, aus dem einzigen Grund, dass er eine Person of Color ist und ein schönes Auto fährt.

STANDARD: Theater oder Oper leben von der Verwandlung. Was passiert, wenn es nur mehr gewissen Menschen erlaubt ist, in gewisse Rollen zu schlüpfen?

Lauwers: Man muss das Ganze nicht ins Extrem treiben, aber es ist wichtig, seinen eigenen Erfahrungshorizont einfließen zu lassen. Ich habe einen katholischen Hintergrund, das erste Bild, das ich sah, war der gekreuzigte Jesus, die Nägel in den Händen, das Blut, der Schmerz. Hier liegen meine Ursprünge als Künstler. Genauso wie ich die Möglichkeit habe, meine Stimme zu erheben, müssen das auch Menschen mit einer anderen Hautfarbe haben. Manche in meiner Generation sehen das als Gefahr und sprechen vom Ende der Kunst. Das ist Blödsinn. (INTERVIEW: Stephan Hilpold, 14.8.2021)