"Mit der Impfdebatte erleben wir auch eine Spaltung der Gesellschaft, die zu großen Unruhen führen könnte." Politikwissenschafter Reinhard Heinisch

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So ratlos, so verlegen waren Wissenschaft und Politik noch selten. Mit Beginn der Pandemie setzten tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft ein – die Covid-Impfungen machten sie jetzt deutlich und manifest. Es geht ein Spalt durch die Gemeinschaft, durch Familien und Partnerschaften, die Trennung bringt Unfrieden ins Büro und Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Mit den Impfgegnern und -skeptikern ist eine neue Bewegung entstanden, die das Potenzial in sich trägt, das Land zu teilen.

Politik und Wissenschaft wissen im Grunde nicht, wie sie mit der massiven Gegenwehr der Impfverweigerer umgehen sollen, wie sie die Verwerfung der Gesellschaft begradigen können, um einen effektiven, notwendigen Impfschutzschirm aufzubauen.

Es geht darum, so viele Menschen wie möglich zu einer Impfung zu bewegen, damit die Pandemie einigermaßen unter Kontrolle gebracht werden kann. Die Impfung ist momentan das stärkste Instrument, das die Politik zur Eindämmung der Pandemie in Händen hat. Eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus wird aber nur dann erreicht, wenn 80 bis 85 Prozent der Menschen geimpft sind. Dazu müssten aber auch Impfgegner und -zweifler überzeugt werden. Und das scheint fast aussichtslos zu sein.

Weit verbreitete Skepsis

Die Gruppe der Corona-Impfgegner ist keinesfalls so klein, wie viele meinen. Eine aktuelle Umfrage des Linzer Market-Instituts für den STANDARD ergab, dass 13 Prozent der Wahlberechtigten erklären, dass sie keine Impfung gegen Covid wollen – Frauen sind dabei beinahe doppelt so impfunwillig wie Männer.

Zudem sind vier Prozent der Befragten nicht bereit, ihre Meinung zur Impfung preiszugeben. Umgelegt auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten heißt das jedenfalls, dass rund 830.000 Personen einer Impfung ablehnend gegenüberstehen, eine weitere Viertelmillion ist noch unsicher, ob sie sich impfen lassen wird.

Noch ein erhellendes Detail der Market-Studie: Vor allem die erklärten Anhänger der FPÖ bekunden eine hohe Impfablehnung. Mehr als ein Drittel dieser Gruppe will sicher nicht geimpft werden. Doch auch unter den Grünen-Wählerinnen und -Wählern finden sich noch neun Prozent Impfunwillige.

Die Impfskepsis verstreut sich breit auf alle Bevölkerungs- und Einkommensschichten, auf alle Altersklassen. Die Beweggründe mögen durchaus unterschiedlich sein – manche misstrauen der Wissenschaft, andere politischen Institutionen, den Medien oder "Eliten" –, doch ein Punkt eint die sonst so heterogenen Gruppen: Sie allein wollen für ihr Handeln verantwortlich sein.

Dieser Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Autonomie ist das tragende ideologische Fundament, das völlig divergente Gruppen von links bis extrem rechts eint und dazu führt, dass bei Demonstrationen sowohl Regenbogenfahnen als auch Reichsbürgerflaggen wehen.

Es beginnt langsam

Wo verläuft der Grad zwischen Impfskepsis und Verschwörungstheorie? Ängste, Verunsicherung und Schwurbelei werden allzu oft in einen Topf geworfen und vermischt. Manche etwa sind verunsichert oder zu wenig aufgeklärt. Sie zweifeln, ob die derzeit verfügbaren Impfstoffe, die "irgendwas mit den Genen machen", tatsächlich die beste Alternative sind – oder man nicht auf einen sogenannten Totimpfstoff warten sollte.

Andere haben die – bereits durch Untersuchungen widerlegte – Sorge, eine mRNA-Impfung könnte unfruchtbar machen. Diese Sorgen mögen irrational erscheinen, gemeinhin. Zu meinen, man könne ihnen allein mit wissenschaftlichen Statistiken begegnen, ist ein Trugschluss.

Dann gibt es jene, die sich fit fühlen, Corona für wenig mehr als eine Grippe halten und deshalb auf ihre Abwehrkräfte vertrauen. Die Gefahr, andere, vielleicht vulnerablere Personen zu infizieren, wird dabei gerne vom Tisch gewischt.

Krude Fantasien

"Wer trotz der Milliarden Impfungen weltweit und aller wissenschaftlicher Erkenntnisse noch immer zweifelt, der setzt sich entweder mit dem Thema Impfen nicht wirklich auseinander und informiert sich nicht, oder er ist bereits an der Kippe zu den Impfverweigerern", sagt der Kommunikationswissenschafter Jakob-Moritz Eberl von der Universität Wien, der in den letzten Monaten im Austria Corona Panel Project der Uni Wien über Impfgegner und -skeptiker geforscht hat.

Im Umfeld der Hardcoreverweigerer kursieren jedenfalls krude Fantasien von genmanipulierten Mücken, die mit Impfstoffen auf die Bevölkerung losgelassen werden, oder von geheimen Impfstoffübertragungen über das Schwimmbadwasser. Hinter alldem werden geheime Eliten vermutet, die durch die Corona-Lüge eine neue Gesellschaftsordnung erzwingen wollen.

Diese Abwendung von der Gesellschaft macht die radikale Verweigerer- und Zweiflercommunity für den Wissenschafter so problematisch. Ihre Anhänger isolieren sich, vertrauen nur noch ihrer eigenen Echokammer und dem "Hausverstand".

Die Entzweiung

Der Politikwissenschafter Reinhard Heinisch von der Universität Salzburg macht sich keine Illusionen. Die Teilung der Gesellschaft, die seit Beginn der Pandemie Fahrt aufgenommen hat und mit der Impfung manifester wird, wird Konsequenzen haben. Seiner Ansicht nach entstehen à la longue neue Parteien – oder es stehen einander letztendlich zwei große Blöcke gegenüber: eine antisystemische Bewegung und Parteien, die das jetzige System verteidigen.

Ein Indiz für die Entzweiung ist auch der STANDARD-Umfrage zu entnehmen. Sollte es aufgrund der wieder steigenden Infektionszahlen neuerliche Beschränkungen geben, dann sind rund drei Viertel der Bevölkerung dafür, dass Geimpfte und Genesene weniger eingeschränkt werden.

Auch der Kommunikationswissenschafter Eberl sieht die Gefahr einer Langzeitwirkung. Wer jetzt in die Verschwörerwelt eintaucht, könnte auch nach Ende der Pandemie dort bleiben. "Dann werden andere Themen den Platz einnehmen – zum Beispiel der Klimawandel", sagt Eberl.

Niederschwellige Impfangebote

Können Politik oder Wissenschaft noch etwas bewirken, Zweifler dazu bringen, sich impfen zu lassen? Verhaltensökonomen, die Regierungen beraten, versuchen mit Methoden des Nudgings zumindest jene zum Impfen zu bewegen, die der Impfung skeptisch gegenüberstehen, sie aber nicht völlig verweigern.

In den USA werden Lotterien organisiert, etliche Länder verteilen Geldgeschenke oder Gratisessen. In Österreich will man mit niederschwelligen Impfangeboten in Kirchen oder Einkaufszentren direkt Kontakt zu den Ungeimpften zu bekommen. Das gelingt teilweise – doch nicht in der Breite.

Den Politikwissenschafter Heinisch macht die Entwicklung sehr nachdenklich: "Die Impfbereitschaft zu heben ist ein ganz großes Experiment, das wir jetzt mit großer Spannung beobachten. Meine Sorge ist, dass aus dieser Spaltung der Gesellschaft massive Unruhen entstehen können." (Walter Müller, 15.8.2021)