Es ist an der Zeit, neu über die Ziele in der Pandemiebekämpfung zu diskutieren.

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In einer Pandemie zu leben bedeutet, schnell umlernen zu müssen. Im vergangenen Herbst war das mit den Fallzahlen intuitiv. Als im November mehr als 6000 Corona-Infektionen am Tag in Österreich bestätigt worden sind, gelangten die Spitäler bald an ihre Grenzen. Das Land wurde heruntergefahren. Damals konnte jeder eine Vorstellung davon bekommen, bei welcher Zahlenlage das Gesundheitssystem in eine heikle Situation kommt.

Die Impfung hat diese Berechnungen über den Haufen geworden. Aber was genau hat sich verändert: Können wir auch mit zwei oder dreimal so vielen Infektionen am Tag leben, bevor es in den Spitälern kracht? Und sollen wir das als Gesellschaft akzeptieren?

Der STANDARD hat mit zahlreichen Mitgliedern des Covid-Prognose-Konsortium aus unterschiedlichen Institutionen gesprochen, die für das Gesundheitsministerium die Corona-Simulationen rechnen – und mit Experten der Stadt Wien, die Fallprognosen erstellen.

Gute Nachrichten ...

Eine Pandemie ist kein mathematisches Problem mit einer Lösung. So gehen die Meinungen auseinander. Ein Szenario, das viele für realistisch halten, sieht so aus: Die neue Welle rollt bereits und wird größer. Eine Überlastung des Gesundheitssystems will niemand gänzlich ausschließen – aber die meisten Experten sind zuversichtlich, dass es nicht mehr dazu kommt.

Im Vergleich zu einer ungeimpften Bevölkerung verhindern die Vakzine aktuell in 90 Prozent der Fälle einen schweren Verlauf. Das bringe schon bei der aktuellen Durchimpfungsrate sehr viel.

Nikolas Popper von der TU Wien sagt, dass es "ziemlich wahrscheinlich" sei, dass es nicht zu einer Überlastung der Spitäler kommt. Peter Klimek von der Med-Uni Wien und dem Complexity Science Hub fasst es so zusammen: Es werden Eindämmungsmaßnahmen im Herbst notwendig sein, aber wohl keine Lockdowns und Schulschließungen mehr. Er erwartet, dass Maskentragen in Innenräumen und die Schließung der Nachtgastronomie reichen sollte, damit nicht zu viele gleichzeitig schwer erkranken.

Es ist kompliziert

Gibt es eine neue Fallzahl, an der wir uns orientieren können? Die kurze Antwort: Es ist kompliziert. Sicher ist nämlich nicht nur, dass Geimpfte weniger schwer erkranken. Sie übertragen das Virus auch seltener. Wie groß dieser Unterschied jedoch ist, bleibt unklar.

Daraus folgt, dass unter Ungeimpften eher Cluster entstehen, sie stecken sich häufiger an. Deshalb komme es darauf an, wie alt die Menschen sind, die sich infizieren – und wie schnell das geschieht. Wenn die Struktur bei den Neuinfektionen so bleibe wie aktuell, sich also vor allem junge Menschen ohne Impfschutz anstecken, "können wir auch mit 10.000 oder 15.000 Fällen am Tag leben", sagt Martin Bicher von der TU Wien.

Wenn aber so wie im Herbst die Infektionen auf ältere Bevölkerungsgruppen ohne Impfschutz übergreifen, könnten schon 3.000 Fälle am Tag die medizinischen Kapazitäten knapp werden lassen, sagt einer seiner Kollegen.

Langsameres Überspringen

Durch die Impfung ist das Überspringen unwahrscheinlicher geworden und sollte langsamer passieren. Zumal die Impfquote bei den Älteren, die vor allem in die Spitäler müssen, hoch ist. Über 80 Prozent der 64-Jährigen sind geimpft.

Am vorsichtigsten sind die Experten der Stadt Wien, hier will man sich gar nicht festlegen: Alles könnte passieren, genauere Angaben ließen sich erst machen, wenn die Schulen öffnen und man sieht, welchen Effekt das hat.

Die neue Welle kommt also, eine Überlastung der Spitäler ist möglich, aber schon mit niederschwelligen Maßnahmen durch die Impfung unwahrscheinlich geworden. Was folgt daraus? Konsens bestand darüber, Spitalskapazitäten nicht zu überdehnen. Aber wenn das nicht mehr das Hauptrisiko ist? Ohne diese Gefahr sind staatliche Vorgaben schwerer zu rechtfertigen. Rufe nach einer Impfpflicht scheinen dann völlig aus der Zeit gefallen.

... und neue Fragen

Wohl aber wird es darum gehen müssen, über das Verhältnis von Geimpften und Ungeimpften zu sprechen, sagt Peter Klimek. Wie viel kann die Gesellschaft von Geimpften abverlangen, um ältere Ungeimpfte, die Risikogruppe, zu schützen? Das ist für ihn eine der zentralen Fragen. "Die sollten wir klären, solange die Fallzahlen niedrig sind und Ruhe herrscht."

Für Nikolas Popper ist es überhaupt an der Zeit, "die Ziele in der Pandemiebekämpfung neu zu diskutieren". Aktuell fehle die Linie. Kanzler Sebastian Kurz erkläre zwar die Pandemie zum individuellen Problem, dann würden aber wieder kollektive Maßnahmen gesetzt.

Was ist die Gesellschaft bereit zu akzeptieren, um was zu erreichen? – Das gehöre besprochen, so Simulationsforscher Popper. Dass nicht 660 Menschen auf der Intensivstation liegen, was als Kapazitätsgrenze gilt, bedeute ja nicht, dass nicht trotzdem 500 Menschen dort in Behandlung sind. (András Szigetvari, 14.8.2021)