Präsident Ashraf Ghani – hier bei einem Meeting im Präsidentenpalast in Kabul im Juli – hat sich am Sonntag in einer Ansprache an die Nation gewendet.

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Taliban-Kämpfer in der Provinzhauptstadt Herat.

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Herat/Kabul/Wien – Die militant-islamistischen Taliban setzen ihren Vormarsch in Afghanistan fort und rücken dabei immer näher an Kabul heran. Am Samstag wurde die viertgrößte Stadt des Landes Mazar-i-Sharif, wo die deutsche Bundeswehr noch bis Juni einen Stützpunkt hatte, von den Islamisten eingenommen. Die Stadt war nach der Hauptstadt Kabul die letzte Bastion der afghanischen Regierung. Gefechte gab es auch um Maidan Shar, der Hauptstadt der rund 35 Kilometer von der afghanischen Hauptstadt gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur.

Mazar-i-Sharif fiel offenbar kampflos. Die Soldaten hätten ihre Ausrüstung zurückgelassen und seien Richtung der usbekischen Grenze geflohen, sagte der Leiter des örtlichen Provinzrats.

In Kabul trafen unterdessen erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen. Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagt ein US-Vertreter. Allerdings versuchten die Islamisten, die Hauptstadt mit ihren vier Millionen Einwohnern zu isolieren, sagte Ministeriumssprecher John Kirby. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Taliban innerhalb weniger Tage auf Kabul vorrücken könnten. "Afghanistan gerät außer Kontrolle", warnte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Er forderte die Taliban auf, ihre Offensive sofort zu stoppen.

19 von 34 Provinzhauptstädten eingenommen

Landesweit setzten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und Regierungstruppen am Samstag in mindestens fünf Provinzen fort. Die Islamisten haben mittlerweile 19. der 34 Provinzhauptstädte des Landes eingenommen. Diese Woche fielen mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrößte Stadt des Landes an die Islamisten. Ebenfalls am Samstag wurde die 70 Kilometer südlich von Kabul liegende Provinzhauptstadt Pul-e Alam eingenommen. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden.

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani sagte in einer kurzen TV-Ansprache am Samstag, er wolle nicht, dass weiter das Blut unschuldiger Menschen in Afghanistan vergossen werde. Er habe Konsultationen mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern abgehalten und wolle die Ergebnisse seinen Landsleuten "bald" mitteilen.

Zuvor hatte der afghanische Vizepräsident Amrullah Saleh am Freitag mitgeteilt, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der "Armee der Ignoranz und des Terrors", damit meinte er die Taliban, entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300.000 Sicherheitskräfte und 60.000 Taliban-Kämpfer gibt.

Die USA warfen der politischen und der militärischen Spitze Afghanistans indes mangelnde Kampfbereitschaft vor. Es mangle am "Willen, sich dem Vormarsch der militanten Islamisten zu widersetzen", so das Pentagon. Das sei "beunruhigend" zu sehen, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, dem Sender CNN am Freitag. Die USA hätten den "fehlenden Widerstand" durch die afghanischen Streitkräfte nicht vorhersehen können, sagte Kirby im Interview mit dem Sender. Die afghanischen Sicherheitskräfte seien den Taliban in Bezug auf Ausrüstung, Training und Truppenstärke überlegen und verfügten über eine eigene Luftwaffe.

Mit Blick auf die finanzielle Unterstützung der US-Regierung für die Sicherheitskräfte fügte Kirby hinzu: "Geld kann keinen Willen kaufen." Dafür sei die politische und militärische Führung der Afghanen zuständig. Die Kampfbereitschaft sei nötig, um zu verhindern, dass die Taliban das ganze Land unter ihre Kontrolle bringen, warnte der Sprecher.

DER STANDARD

Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. "Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe", sagte eine Sprecherin des Uno-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.

Soldaten nur für Evakuierung

Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte wollten ursprünglich 3.000 Soldaten nach Kabul verlegen und haben diese Zahl aufgrund des Vormarsches der Taliban am Samstagabend auf "etwa 5.000" erhöht. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Nach Informationen der "New York Times" haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen. Biden warnte die Taliban davor, die Evakuierungen zu behindern. Angriffe auf US-Interessen würden rasch und energisch beantwortet.

Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4.000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1.000 nach Katar – für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag.

Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Dänemark und Norwegen wollen angesichts des Vormarsches der Taliban vorübergehend ihre Botschaften in Kabul schließen. Deutschland und Schweden kündigte am Freitag an, das Personal ihrer Botschaften in Kabul in den nächsten Tagen zu reduzieren. Österreich unterhält in Kabul keine Botschaft, der Amtsbereich Afghanistan wird von Islamabad aus betreut.

Zwei Österreicher in Afghanistan

Das Außenministerium in Wien weiß aktuell von insgesamt zwei österreichischen Staatsbürgern, die sich derzeit in Afghanistan aufhalten, wie eine Sprecherin am Freitagabend mitteilte. Man versuche mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Unterdessen forderte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) die Taliban auf, "ihr rücksichtsloses Vorgehen sofort zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren". (APA, 14.8.2021)