Hunderttausende Menschen sind aus Afghanistan auf der Flucht, die Lage spitzt sich weiter zu.

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Wien/Berlin/Kabul – Während Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sich trotz Kritik und Vormarsch der Taliban weiter gegen einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan ausspricht, erklärt sich Kanada bereit, 20.000 Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen. Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) und der Staatsminister im deutschen Auswärtigen Amt, Michael Roth, warnen vor einer größeren Fluchtbewegung Richtung Europa. Die Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen, Annalena Baerbock, warnt vor einer Wiederholung von Versäumnissen während des syrischen Bürgerkriegs 2015.

Nehammer bleibt stur

Trotz der faktischen Unterbrechung von Abschiebungen nach Afghanistan bleibt Nehammer auf seiner Linie, zumindest was seine Worte betrifft: "Es ist einfach, einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan zu fordern, aber andererseits die zu erwartenden Fluchtbewegungen zu negieren. Wer Schutz benötigt, muss diesen möglichst nahe am Herkunftsland erhalten", so Nehammer am Samstag zur APA. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) verwies auf die Bedeutung internationaler Kooperation.

"Ein genereller Abschiebestopp ist ein Pull Faktor für die illegale Migration und befeuert nur das rücksichtlose und zynische Geschäft der Schlepper und somit der organisierten Kriminalität," erklärte Nehammer in einem Statement gegenüber der APA ohne weitere Details zu nennen. Es seien fast ausschließlich junge Männer, die einen Asylantrag in Österreich stellen, betonte er. Dadurch sehe er den sozialen Frieden gefährdet. Er setzt auf "humanitäre Hilfe vor Ort". Mittlerweile haben bereits Norwegen, Finnland, Schweden, Niederlande, Frankreich und Deutschland die Abschiebungen in das Kriegsgebiet ausgesetzt. Auch die EU-Botschafter in Afghanistan, die selbst bald evakuiert werden dürften, forderten zuletzt, die Abschiebungen auszusetzen.

Kickl sieht "Bluff"

FPÖ-Chef Herbert Kickl sprach von einem "peinlichen Bluff der Türkisen": "Die ÖVP versucht mit allen Mitteln den Anschein zu wahren, man würde weiter Abschiebungen nach Afghanistan durchführen. Tatsache ist, dass der letzte Abschiebeflug bereits vor zwei Monaten stattgefunden hat und seitdem kein einziger Afghane außer Landes gebracht wurde", so der Parteiobmann in einer Aussendung am Samstag.

Deutschland warnt vor Flüchtlingsbewegung und Versäumnissen

In Deutschland beginnt man sich bereits auf steigende Flüchtlingszahlen einzustellen. Die Zahl der Geflüchteten hat bereits dramatisch zugenommen", sagte der Staatsminister im deutschen Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD) zur "Rheinischen Post".

Roth führte aus, derzeit gebe es am Hindukusch 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge, 400.000 allein in diesem Jahr. Der Druck werde nicht nur weiter "massiv" auf die Türkei, Iran und Pakistan wachsen. "Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmen wird", sage der Staatsminister.

Umso wichtiger sei es, dass das EU-Abkommen mit der Türkei zur Unterstützung der Flüchtlinge vor Ort schnell umgesetzt werde. So habe es bereits im Juni eine Überarbeitung des Abkommens gegeben.

Die Grüne-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warnte vor einer Wiederholung von Versäumnissen während des syrischen Bürgerkriegs. Die europäischen Länder seien damals auf fatale Weise unvorbereitet gewesen, dass Menschen in so einer dramatischen Situation ihr Land verlassen müssten, sagte Baerbock in einem Interview des "Deutschlandfunk". Man dürfe diesen katastrophalen Fehler nicht wiederholen und warten, bis alle 27 EU-Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit seien. Vielmehr müsse man sich mit den europäischen Ländern zusammenschließen, die dazu bereit seien. Auch mit den USA und Kanada müsse man sich abstimmen. Gemeinsam müssten klare Kontingentregeln vereinbart werden.

Auch Platter warnt

Auch Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) rechnet offenbar mit einem beträchtlichen Zustrom von Migranten nach Österreich im Herbst. "Ich meine, dass wir mit einer größeren Flüchtlingswelle konfrontiert werden", sagte Platter zur APA.

Sollte sich die Situation in Italien weiter zuspitzen, bestehe "durchaus die Gefahr, dass wir an die 100.000 Flüchtlinge haben werden, die in Italien anlanden und in Tirol illegal einreisen wollen, um nach Zentraleuropa zu kommen". Ein solches Szenario sei – nicht zuletzt wegen der Situation in Afghanistan – "nicht auszuschließen".

Kanada will Menschen aufnehmen

Einen anderen weg geht Kanada: Das Land will mehr als 20.000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufnehmen, um sie vor den Taliban zu schützen. Dazu zählten unter anderen Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und weibliche Führungskräfte. Das teilte Marco Mendicino, Minister für Einwanderung, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft, am Freitag mit. Diese Personen würden zusätzlich aufgenommen.

Die Regierung in Ottawa hat bereits Dolmetschern, die für Kanada gearbeitet haben und Botschaftsmitarbeitern in Afghanistan zugesagt, sie vor der Rache der Taliban zu schützen und ins Land zu lassen. Die radikal-islamischen Taliban rücken bei ihrer Offensive in Afghanistan immer weiter vor. (APA, 14.8.2021)