Einer der laufenden Einsätze der libanesischen Armee mit dem Ziel, Schwarzhändlern den von ihnen gehorteten Treibstoff abzunehmen und an die Bevölkerung zu verteilen, hat in den frühen Morgenstunden des Sonntags zu einem schweren Unfall geführt. Mindestens 28 Menschen wurden getötet, Dutzende verletzt, als in Al-Tleil im nördlichen Bezirk Akkar ein Benzintank explodierte. Von den Verletzten schweben etliche in Lebensgefahr, einige Personen wurden vermisst.

Foto: EPA / Nabil Mounzer

Der frühere Premier Saad Hariri verglich das Unglück auf Twitter mit der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020, bei dem mindestens 218 Menschen ums Leben kamen: Das Akkar-Massaker sei nichts anderes als das Hafen-Massaker. Die Behörden haben sich noch nicht über die Ursache geäußert, aber bei der Verteilung des Benzins dürfte ein Streit ausgebrochen sein, Schüsse führten dazu, dass er entzündet wurde.

Der Libanon leidet seit Tagen unter einer beispiellosen Versorgungskrise, die das Land praktisch lahmgelegt hat. Nachdem es in Teilen des Libanon tagelang keinen Strom gab, brach auch noch die Treibstoffversorgung völlig zusammen – was auch den Ausfall von dieselbetriebenen Generatoren zur Stromerzeugung bedeutet.

Akute Lebensgefahr

Am Samstag wandte sich das Krankenhaus der American University (AUBMC), eines der führenden Spitäler im Libanon und in der ganzen Region, mit einem Appell an die libanesische Regierung und an die Uno: Werde das Spital nicht bis Montag mit Treibstoff versorgt, müsse es den Betrieb einstellen.

Das bedeute, so das Krankenhaus in seinem Kommuniqué, dass 40 Erwachsene und 15 Kinder, die aktuell künstlich beatmet werden, sofort sterben würden. 180 Patienten, die eine Dialyse brauchen, würden in den Tagen darauf einer Vergiftung erliegen, hunderte Krebspatienten könnten folgen.

Bilder aus Beirut am Wochenende zeigten eine Stadt mit gespenstisch leeren Straßen. Am Samstag wurden etliche geschlossene Tankstellen von der Armee übernommen, die in den sozialen Medien Bilder verbreiten ließ, wie Soldaten Autos betankten. Im Rahmen dieses Einsatzes – der Beschlagnahme von Benzin und dessen Gratisverteilung – geschah die Explosion in Al-Tleil.

Das Geschäft mit dem Öl

Die neueste Spritkrise ist die Folge einer Entscheidung von Zentralbankchef Riad Salameh, Treibstoffimporte nicht mehr mit einem festgelegten Dollarkurs zu subventionieren. Er könne die vorgeschriebene Grenze für die libanesischen Devisenvorräte, die nun erreicht sei, nicht ohne Gesetzesänderung unterschreiten.

Das würde bedeuten, dass Treibstoff zum Dollar-Schwarzmarktkurs eingeführt und damit bis zu fünf Mal teurer würde. Gleichzeitig beharrt die Regierung jedoch darauf, dass der Benzinpreis nicht steigt. Daraufhin stellten Treibstoffhändler den Verkauf ein: Sie könnten nicht zu alten Preisen verkaufen und zu neuen importieren.

Der Libanon hat derzeit nur eine Übergangsregierung, und zwar bereits seit einem Jahr, als Premier Hassan Diab nach der Explosionskatastrophe von Beirut zurücktrat. Hariri musste Mitte Juli nach neun Monaten den Versuch einer Regierungsbildung aufgeben. Derzeit bemüht sich Najib Mikati, der ebenfalls bereits zweimal Regierungschef war, um die Bildung eines Expertenkabinetts.

Doch noch eine Regierung?

Es gibt Hinweise, dass die akute Vertiefung der Krise einen Kompromiss zwischen Mikati und Präsident Michel Aoun beschleunigen könnte. Aoun hat die bisher vorgeschlagenen Ministerlisten immer wieder abgelehnt: Auch wenn es sich um eine Expertenregierung handelt, streiten die konfessionellen Gruppen und Parteien um Posten. Hariri hat am Sonntag Aoun zum Rücktritt aufgefordert, nachdem dieser angedeutet habe, das Unglück von Al-Tleil sei das Werk von "militanten Gruppen" – und nicht, einmal mehr, die Folge des eklatanten Versagens des libanesischen Staates.

Treibstoff ist im Libanon schon länger knapp – dann gab es plötzlich gar nichts mehr. Auch keinen Diesel für die Generatoren von Krankenhäusern. (Gudrun Harrer, 15.8.2021)